Kieferorthopädie
BMG lässt Nutzen jetzt doch evaluieren
BERLIN. Im Streit um den Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen geht das Bundesgesundheitsministerium in die Vorwärtsverteidigung. Das BMG plant eine Gutachtenvergabe, um eine "evidenzorientierte Einschätzung" des Wissens über die "langfristigen Auswirkungen der wichtigesten kieferorthopädischen Behandlungsarten" erheben zu lassen. Das teilt das Ministerium auf eine Frage der grünen Abgeordneten Dr. Kirsten Kappert-Gonther mit. Zudem geplant sind Schritte, die Versicherten mehr Transparenz über Selbstzahlerleistungen geben sollen.
Die Abgeordnete attestierte dem Ministerium eine "180 Grad-Wende". Die Vergabe eines Gutachtens sei ein "überfälliger Schritt". Hintergrund ist die harsche Kritik des Bundesrechnungshofs am BMG: Die Prüfer hatten moniert, die GKV gebe jährlich 1,1 Milliarden Euro für kieferorthopädische Leistungen aus, wisse aber wenig bis nichts über die Evidenz. Das BMG verteidigte sich seinerzeit mit dem Hinweis, es könne Versorgungsforschungsstudien "weder durchführen noch beauftragen". Diese Argumentation nennt Kappert-Gonther "abenteuerlich". Sie warnte davor, die Gutachtenvergabe zu nutzen, um die Kritik des Rechnungshofs "auszusitzen". Wenn die Expertise vorliegt, müsse das BMG eine "systematisch, patientenorientierte Versorgungsforschung" starten.
Zuvor hat das Ministerium auf die Rechnungshof-Kritik ungehalten reagiert und behauptet, das System der kieferorthopädischen Indikationsgruppen (KIG) "gewährleiste eine zuverlässige und an objektiven Kriterien ausgerichtete Entscheidung über die Leistungserbringung". Versorgungsstudien hielt das BMG für unpraktikabel: Es gebe "ethische Probleme", weil insbesondere Kinder und Jugendliche betroffen wären. Außerdem würden derartige Untersuchungen "organisatorisch und methodisch problematisch" sein. Diese Haltung hat das BMG offensichtlich aufgegeben.
Unter Umständen auch deshalb, weil Krankenkassen Studien zur Kieferorthopädie schon längst aufgelegt haben. Vergangene Woche erst hat die Handelskrankenkasse hkk das Gutachten "Kieferorthopädische Versorgung von Kindern und Jugendlichen im Spiegel von Routinedaten (2012-2017)" vorgelegt. Darin weisen Dr. Bernard Braun vom Bremer Institut für Arbeitsschutz und Gesundheitsschutz und der Kieferorthopäde Dr. Alexander Spassov auf "zahlreiche Missstände" in der Versorgung hin.
Diese Punkte sind in der Kritik:
- Fast alle Versicherten, unabhängig vom Alter und ohne Prüfung der Erfordernis, würden mit Röntgenstrahlen untersucht. Das sei ein klarer Verstoß gegen nationale und internationale Röntgenverordnungen.
- Auf Kritik stößt der verbreitete Einsatz sogenannter loser Spangen. In den meisten Fällen sei die ausschließliche Behandlung mit festen Spangen "zweckmäßig und wirtschaftlich".
- Die Behandlungsdauer sei mit bis zu drei Jahren viel zu lang und in der Regel nicht mit einem gesundheitlichen Bedarf begründbar.
Studienautor Braun hält ein Maßnahmenbündel für nötig, um den Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen zu ermitteln. Als ersten Schritt fordert er, Behandlungsbedarf und Indikationsstellung müssten "zuverlässiger erfasst und ausgewertet werden". (fst)