Systemfrage
Bürgerversicherung: Richtungswahl steht an
Praxischefs sehen mit Unverständnis die erneut aufkeimende Debatte über eine Abschaffung des dualen Versicherungssystems.
Veröffentlicht:Stuttgart. Niedergelassene Ärzte sehen der Bundestagswahl mit Bangen entgegen. Grund dafür sind mögliche Mehrheiten im Parlament, die für eine Bürgerversicherung votieren.
Es gebe keinen wirklichen Grund für einen solchen Systemwechsel, sagte Dr. Bernd Salzer, Vorsitzender des Spitzenverbands der Fachärztlichen Berufsverbände Baden-Württemberg. Bei einer Online-Diskussion, zu der Jochen Haußmann, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Landtag eingeladen hatte, zeigte sich Salzer überzeugt: „Nichts würde besser werden.“ Er fürchtet vielmehr eine Ausdünnung der fachärztlichen Versorgung als Folge von Honorarverlusten durch die Bürgerversicherung.
PVS berechnet Honorarverluste
Schreckgespenst Bürgerversicherung
In keinem Politikfeld sei der Begriff „Richtungswahl“ so angemessen wie in der Gesundheitspolitik, sagte Dr. Florian Reuther, Direktor des PKV-Verbands: „In einem Einheitssystem gibt es keine PKV mehr“, glaubt er.
Im bisherigen dualen Versicherungssystem seien GKV und PKV der Maßstab für die jeweils andere Säule. „Das hält beide Systeme frisch“, so Reuther. Sobald im GKV-System neue Leistungen eingeführt werden, „klingelt bei uns das Telefon“ und es gebe Nachfragen von Versicherten, ob diese auch von der Privatassekuranz angeboten würden.
Wartezeiten als Systemfrage?
Klaus Rinkel, Vorsitzender des Hartmannbunds in Baden-Württemberg, erinnerte daran, dass sehr verschiedene Spielarten der Bürgerversicherung in der politischen Diskussion seien. Aber auch bei „integrierten“ Versicherungsmodellen, wie sie von den Grünen favorisiert werden, würde man am Ende in einem „einheitsnahen System“ landen, vermutet Rinkel.
Die oftmals als Grund für einen Systemwechsel angeführten Wartezeiten auf einen Arzttermin würden durch eine Bürgerversicherung nur vereinheitlicht. „Dabei finden Patienten nirgends so schnell einen Termin für eine fachärztliche Behandlung wie in Deutschland“, zeigte sich Rinkel überzeugt.
Die von der großen Koalition angestoßenen Terminservicestellen (TSS) hätten – anders als zuvor behauptet – nur überschaubare Probleme bei der Terminfindung offenbart, ergänzte der Dermatologe Salzer. Zu den 165.000 täglich in Baden-Württemberg vergebenen Facharztterminen kämen pro Tag 30 bis 50 Anrufe von Versicherten via TSS, die die Vermittlung eines Arzttermins wünschten – das liege im Promillebereich.
Für den PKV-Verband verwies Florian Reuther auf die ungelösten rechtlichen Probleme einer Bürgerversicherung. Denn auf die Altersrückstellungen, die von den PKV-Unternehmen aufgebaut wurden, dürfe der Gesetzgeber nicht zugreifen.
Unterstützung durch Karlsruhe
Rückenwind für das Kapitaldeckungsverfahren sieht Reuther durch das Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Die Karlsruher Richter hätten betont, dass Politiker durch ihre Entscheidungen Lasten nicht auf künftige Generationen überwälzen dürften. „Aber genau das geschieht durch das Umlagesystem.“
Reuther wies Vorwürfe zurück, die PKV würde sich nicht ausreichend an den Folgekosten der Corona-Pandemie beteiligen. Die Kosten beispielsweise für Hygiene-Zuschläge oder Pflege-Rettungsschirme addierten sich für die PKV bisher auf etwa 1,7 Milliarden Euro. Und diese würden allein von den PKV-Versicherten getragen: „Ohne einen Cent Steuermittel“, so Reuther in Anspielung auf die zusätzlichen Bundesmittel für die GKV.