Urteil

Bundessozialgericht hält an "Krankengeldfalle" fest

Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit müssen vom Arzt rechtzeitig erneuert werden - sonst können Patienten keinen Anspruch auf Krankengeld geltend machen. Der Gesetzgeber müsste die Regelungslücke schließen.

Martin WortmannVon Martin Wortmann Veröffentlicht:
AU-Bescheinigungen müssen von Ärzten nahtlos ausgestellt werden –sonst verfallen Ansprüche.

AU-Bescheinigungen müssen von Ärzten nahtlos ausgestellt werden –sonst verfallen Ansprüche.

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KASSEL. Der ärztliche Bescheinigung für Krankengeld gilt immer erst für den Folgetag des Arztbesuchs. Das gilt nicht nur für die allererste, sondern auch für alle nachfolgenden Bescheinigungen, wie jetzt das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel bekräftigt hat.

Eine geschlossene Praxis oder eine falsche Auskunft des Arztes muss die Krankenkasse nicht als Ausrede akzeptieren.

Auch wenn es nach Überzeugung der obersten Sozialrichter nicht die Aufgabe der Ärzte ist, können sie ihren Patienten beim Umdenken helfen, wenn nach sechs Wochen die Lohnfortzahlung ausläuft.

Denn während für die Lohnfortzahlung eine nahtlose Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für alle Werktage ausreicht, gilt dies beim Krankengeld nicht mehr.

Laut Gesetz "entsteht" hier ein Anspruch erst für den Folgetag der ärztlichen Bescheinigung. Nach der Rechtsprechung des BSG gilt dies auch für die Folgebescheinigungen. Versicherte müssen daher den Arzt immer schon aufsuchen, noch bevor die aktuelle Bescheinigung ausgelaufen ist.

BSG contra LSG Nordrhein-Westfalen

Weil dies häufig übersehen wird, sprechen Kritiker von einer "Krankengeldfalle". Sie ist besonders gravierend für Versicherte, die - etwa wegen einer lang andauernden Krankheit - entlassen worden sind.

Das Bundessozialgericht bekräftigte, dass sie noch Anspruch auf Krankengeld haben, wenn dies spätestens am letzten Beschäftigungstag vom Arzt bescheinigt wird. Mit dem Krankengeldanspruch läuft dann auch das gesamte Krankenversicherungsverhältnis für bis zu 78 Wochen fort.

Wird aber eine Folgebescheinigung zu spät eingeholt, dann endet das "nachwirkende" Versicherungsverhältnis und damit auch der Anspruch auf Krankengeld.

In mehreren Fällen hatte das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen in Essen diese Rechtsprechung in Frage gestellt. Das Gesetz regele nur die Erstbescheinigung für das Krankengeld, auf die Folgebescheinigungen sei dies nicht anwendbar.

Das BSG hielt jedoch an seiner Auffassung fest. Was für die Erstbescheinigung gelte, müsse auch für die weiteren Bescheinigungen gelten. Änderungen könne nur der Gesetzgeber selbst vornehmen. Trotz der langjährigen Rechtsprechung des BSG habe er dies aber bislang nicht getan.

In einem weiteren Fall hatte die Praxis am letzten Tag der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geschlossen. Der Versicherte rief seinen Arzt an und ging dann am nächsten Werktag in die Praxis.

Das BSG entschied, dass die Krankenkasse auch dann eine rückwirkende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht akzeptieren muss.

Ausnahme, wenn Versicherte gehindert ist, Praxis aufzusuchen

Im letzten Fall war der Versicherte rechtzeitig zum Arzt gegangen, der schickte ihn aber wieder nach Hause, weil zwei Tage später ohnehin ein Untersuchungstermin anstand. Auch solch ein Fehlverhalten des Arztes muss sich die Krankenkasse nicht zurechnen lassen, urteilte das BSG.

Anderes gelte nur bei einer Fehlauskunft der Kasse selbst. Eine Ausnahme kann nach der BSG-Rechtsprechung bestehen, wenn der Versicherte gesundheitlich gehindert ist, eine Praxis aufzusuchen. Krankenhäuser sollten darauf achten, mit der Entlassung gegebenenfalls auch die Arbeitsunfähigkeit zu bescheinigen.

Für Arbeitnehmer, die trotz ihrer Krankheit weiter in einem Arbeitsverhältnis stehen, wirkt sich diese "Krankengeldfalle" allerdings weniger gravierend aus.

Sofern sie eine Folgebescheinigung zu spät einholen, kommt der Anspruch auf Krankengeld lediglich zum Ruhen. Am Folgetag der nächsten Bescheinigung lebt er aber wieder auf.

Az.: B 1 KR 31/14, B 1 KR 35/14< und B 1 KR 37/14 (beendetes Arbeitsverhältnis); Az.: B 1 KR 25/14 (geschlossene Praxis); Az.: B 1 KR 19/14 (falsche Arztauskunft)

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Kommentare
Dr. Thomas Georg Schätzler 07.01.201512:24 Uhr

Anspruch auf Krankengeld - ein ewiges Dilemma?

Es ist und bleibt ein Ärgernis: Weit über 100 Gesetzliche Krankenversicherungen basteln an eigenartig-eigenwillig gestalteten Krankengeld-Auszahlungsscheinen (KGA). Diese kommen zum Einsatz, wenn die Lohnfortzahlungspflicht der Arbeitgeber endet, welche mit dem bundesweit verpflichtenden GKV-Vordruck Muster 1 a (Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung-AU) dokumentiert wird.

Dann hängt es n i c h t mehr von Arztpraxen und ihrem Formulardrucker ab, sondern ob die GKV-Sozialversicherungs-Fachangestellten sich dazu bequemen, ihren Versicherten eine Krankengeld-(Pendel-)Bescheinigung r e c h t z e i t i g zukommen zu lassen. Von Hinweisen auf gesetzliche Vorschriften, dass ein KGA nicht nur rechtzeitig, sondern sogar v o r z e i t i g vom Arzt ausgefüllt und bescheinigt werden muss, fehlt i. d. R. jede Spur.

Inhaltliche Unterschiede zwischen AU nach Muster 1 a und KGA sind bei den ärztlichen Dokumentationspflichten nicht erkennbar. Dennoch beharren die GKV-Kassen auf ihrem redundanten, fehler- und komplikationsträchtigen Parallel-Verfahren, mit dem voraussehbaren Risiko, dass uninformierte Patienten oder Ärzte für evtl. Fehlverhalten verantwortlich gemacht werden.

GKV-Kassen und ihre Mitarbeiter lachen sich dabei wohl klammheimlich ins Fäustchen, wenn sie wieder einmal bundesweit Krankengelder in Millionenhöhe einsparen können, weil das formaljuristisch vom Bundessozialgericht geforderte Verfahren im Detail von erkrankten, Teilhabe-geminderten Patienten und ihren behandelnden Ärzten nicht peinlich genau beachtet werden konnte.

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund
Vgl. vom 7.10.2014 auf "Schätzlers Schafott"
http://www.springermedizin.de/aergernis-gkv-krankengeld-auszahlungsscheine/5363114.html

Dr. Richard Barabasch 07.01.201511:15 Uhr

Gerade "solche Fakten" sind es . . .

Gerade solche "Fakten" sind es, die in ihrer Vielfalt die Vertragsärzteschaft verstören und erbittern und Nachfolger abhalten, sich solche Unflätigkeiten "per Ukas Bundessozialgericht" antun zu lassen. Es zeigt aber auch auf, wie diametral und wie unheilvoll entfernt eine empathische "vertragsärztliche Arzt-Moral" und eine puristische "juristische Richter -Moral" voneinander sind. Ärzte sollen es richten, was menschlich-alltäglich gang und gäbe ist und tun es gerne, weil dahinter eine Mit- und ZwischenMENSCHlichkeit mit Leben erfüllt ist. Eine "BSG-Moral" schießt hier erbarmungslos dazwischen. Mutwillig bis böswillig - im Hinblick auf die Tat-Sache, dass Menschlichkeit auch mit Menschlichkeit nur gelebt werden kann - nicht mit Bürokratie eines leblosen und deshalb unmenschlichen Rechtsverständnisses mit Exekutionsanspruch,
meint
R.B.

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