Interview
Corona-Impfung versus Bürokratie? „Im Zweifel für die Impfung!“
Die Republik sucht den Impfturbo. Niedergelassene könnten dieser sein. Aber es fehlt Impfstoff, sagt STIKO-Mitglied Eva Hummers. Auch die Bürokratie tut ihr Übriges. DEGAM-Präsident Martin Scherer fordert: „Im Zweifel impfen!“.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Vergangene Woche haben Bund und Länder Öffnungen des Lockdowns beschlossen, aber die Corona-Inzidenzzahlen steigen wieder. Gleichzeitig stockt es bei den Impfungen. Steuern wir auf die dritte Welle zu oder trügt das Bild?
Professor Martin Scherer: Erfreulich ist zumindest, dass die Zahl der Neuinfektionen bei über 80-Jährigen stark zurückgegangen ist. Wenn man sich die Sieben-Tages-Inzidenzen nach Altersgruppe anschaut, geht die Zahl der Neuinfektionen in dieser hochaltrigen Gruppe seit Anfang des Jahres kontinuierlich zurück. Und glücklicherweise wurden die sehr alten Menschen auch entsprechend priorisiert bei der Impfung. Vermutlich können wir sogar davon ausgehen, dass wir mit Blick auf Mortalität und sehr schwere Verläufe aus dem Gröbsten erst mal raus sind bei Menschen in Altenpflegeeinrichtungen.Professor Martin Scherer
- Aktuelle Position: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM)
- Karriere: Seit 2011 Professor für Allgemeinmedizin und Direktor des Instituts und der Poliklinik für Allgemeinmedizin am Uniklinikum HamburgEppendorf, Ärztlicher Leiter der Allgemeinmedizin am Ambulanzzentrum
Die Politik, Frau Professor Hummers, forciert im Moment zwei Elemente: Schnelltests und Impfungen. Welche sind das Mittel der Wahl gegen den Lockdown?
Professor Eva Hummers: Die Impfungen sind ganz sicher Mittel der Wahl. Und wir können nur hoffen, dass bald so viel Impfstoff nachkommt, dass wir noch viel mehr in der Breite impfen können. Bei den Selbsttests bin ich noch nicht ganz überzeugt, ob das nun die ganz große Kehrtwende bringt. Mehr Tests wären gut, wenn sie systematisch stattfänden. Das halte ich schon für geboten.
Erst knapp sechs Millionen Menschen sind hierzulande geimpft. Viele Länder sind schneller als wir. Woran liegt das, an unserem Föderalismus, an der Bürokratie?
Scherer: Vergessen Sie auch nicht, dass Deutschland ein großes Land ist. Wenn in Israel genauso schnell wie bei uns fünf Millionen Menschen geimpft werden, dann ist das dort mehr als die Hälfte der Bevölkerung, bei uns sind es aber nur sechs Prozent.
Selbst Großbritannien mit 16 Millionen weniger Einwohnern als die Bundesrepublik hat schon 23 Millionen Bürger geimpft – viereinhalb Mal so viel wie wir.
Hummers: Tatsächlich ist ein weiterer Grund, dass Deutschland relativ spät relativ wenig Impfstoff bekommen hat. Es ist immer noch die Hauptbremse, dass nicht so viel Impfstoff verfügbar ist, dass wir sehr schnell viele Leute gleichzeitig hätten impfen können.
Weil wir an einem ordentlichen Zulassungsprozess festgehalten haben?
Hummers: Ja! Es gibt keine Notzulassungen in der EU, mit der Sicherheitsregularien umgangen worden wären. Auch zu den Verhandlungen im letzten Jahr mit den Herstellern kann man rückwirkend sagen, das hätte man vielleicht alles anders machen sollen, aber ganz sinnlos ist der europäische Weg letztlich auch nicht.
Im UK und den USA wurden schneller größere Lieferverträge vereinbart, wohl auch hie und da zu besseren Bedingungen für die Hersteller. Und die Vakzinen haben zügig Notfallzulassungen erhalten. Waren das die entscheidenden Stellschrauben?
Hummers: Ich denke, das ist ein ganz großer Schlüsselfaktor. Beide Länder waren schneller vom Stapel mit dem, was Sie gesagt haben: Notfallzulassungen und eine erhebliche Impfstoffproduktion im eigenen Land und damit eine schnelle Lieferung. In beiden Ländern ist es auch so, dass zum Teil unter einfacheren Bedingungen geimpft wird als in Deutschland, etwa in Apotheken. In den USA habe ich auch schon den Arztpraxisbus vor dem Supermarkt stehen sehen, dort wird dann vielleicht auf der Parkbank nachbeobachtet. Bei uns wurde großer Wert daraufgelegt, dass die Impfung unter sicheren Bedingungen und unter ärztlicher Beobachtung stattfindet. Dann muss man eben in Kauf nehmen, dass es deswegen vielleicht etwas langsamer vorangeht.
Professor Eva Hummers
- Aktuelle Position: Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)
- Karriere: seit 2012 Direktorin des Instituts für Allgemeinmedizin der Universitätsmedizin Göttingen; seit 2011 Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert KochInstitut
Offenbar ist den Kontinentaleuropäern, mindestens den Deutschen, Sicherheit kulturell etwas wichtiger.
Hummers: Ja, das mag sein. Erinnern Sie sich: Es gab vorher die Sorge, dass die neuen mRNA-Impfstoffe nicht sicher sein könnten. Deswegen wurde das Thema Sicherheit so sehr in den Vordergrund gestellt, und deswegen haben wir auch eine relativ aufwendige bürokratische Impfsurveillance, die auch der Sicherheit dient.
Jetzt sollen Vertragsärzte der Booster werden. Bundesfinanzminister Olaf Scholz sprach jüngst von zehn Millionen Impfungen pro Woche. Ist das möglich, Herr Scherer?
Scherer: Wir haben 54.000 Hausärzte in Deutschland. Wenn jeder 20 Impfungen am Tag macht, sind das pro Tag eine Million Impfungen. Das wären dann pro Woche fünf Millionen Impfdosen. Um auf zehn Millionen zu kommen, müsste rechnerisch jeder Kollege 40 Impfungen pro Tag schaffen. Das klingt zunächst einmal nicht völlig unrealistisch. Mit anderen Worten: Ja, die niedergelassenen Ärzte könnten der Impfturbo sein. Und wir haben ja auch noch die Impfzentren und mobilen Teams. Aber wir brauchen halt Impfstoff.
Hummers: 40 Impfungen pro Tag finde ich schon sportlich, zumal auch die Zahl der Stühle in den Wartezimmern ein Faktor ist.
Das Bundesgesundheitsministerium erwartet fürs zweite Quartal 60 Millionen Impfdosen zusätzlich. Wenn das wirklich so käme, dann wären die Impfzentren und Impfteams doch ohnehin überfordert, oder?
Hummers: Ja klar, dann wäre es sehr sinnvoll, alle Ärzte impfen zu lassen, die dazu befähigt sind, insbesondere eben auch die Hausarztpraxen. Umgekehrt wären die Praxen aber alleine auch überfordert, weil sie ja auch ihre ganz alltäglichen Patienten haben. Deswegen sollte auf allen Ebenen geimpft werden, in den Zentren und mit den Impfteams, die an einem Ort viele Menschen auf einmal impfen kommen, und eben in den Praxen, die das in die Breite bringen. Wir können nur heute nicht sagen, ob die erwarteten Liefermengen dann auch eingehalten werden. Hier vor Ort ist die Zahl der Impfstoffdosen für die nächsten zwei Wochen wieder gekürzt worden.
Sie sagen, dass es sportlich wird, wenn wir die Scholz’schen zehn Millionen pro Woche schaffen wollen …
Hummers: Ja, die Impflinge kommen ja oben drauf zu dem, was in der Praxis ohnehin zu tun ist. Die Menschen müssen aufgeklärt werden über die Impfung, was bei Corona aufwendiger ist als bei der Grippeimpfung. Und wir haben im Hintergrund das Impfregister mit dem entsprechenden bürokratischen Aufwand, dass jede Impfung pseudonymisiert und gemeldet werden muss.
Hinzu kommt die Priorisierung: Ist die den Hausärzten zuzumuten?
Hummers: Ich habe meinen hausärztlichen Kollegen bisher immer gesagt: „Überlegt euch gut, ob ihr das wirklich haben wollt.“ Das ist nicht trivial, schon in den Impfzentren sind die Diskussionen nicht trivial. Und es läuft der üblichen hausärztlichen Arbeit, nämlich der Anwalt seiner Patienten zu sein, auch ein Stück weit zuwider, wenn man dann plötzlich sagen muss: „Nee, sie jetzt noch nicht.“ Obwohl möglicherweise das Bedürfnis und die medizinischen Gegebenheiten einen Anspruch nachvollziehbar machen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Vorgaben der Politik im Moment sehr schnell, teils mit einer Halbwertzeit von 24 Stunden verändern. Und die priorisierten Gruppen werden immer größer. Das ist so, als wenn Sie der Schlange vor dem Fußballstadion sagen: „Sie sind alle als Erste dran.“
Scherer: Die DEGAM steht ganz klar zu den STIKO-Empfehlungen, aber wir müssen jetzt einfach mal einen Zahn zulegen. Es geht um Geschwindigkeit, wenn wir bis Sommer jedem ein Impfangebot gemacht haben wollen. Deshalb würde ich sagen: „Im Zweifel für die Impfung.“ Die Priorisierung kam ja aus der Tatsache begrenzter Impfdosen. In dem Moment aber, in dem wir ausreichend Impfstoff haben, sollten wir großzügiger werden. Im Moment gilt die STIKO-Empfehlung, und für Hausärzte ist es täglich Brot, sich an diese Empfehlungen zu halten.
Hummers: Empfehlungen sind Empfehlungen. Im Moment haben wir zusätzlich die Erlasse. Die haben einen gewissen Gesetzescharakter und weichen von den STIKO-Empfehlungen durchaus ab, oft in der Form, dass zusätzliche Menschengruppen in hohe Priorisierungen aufgenommen werden. Aber das entscheidende Kriterium ist und bleibt die verfügbare Impfstoffmenge. Sobald wir annähernd genügend haben, soll selbstverständlich jeder die Impfung bekommen, der sich in der Praxis blicken lässt. Das würde der Kontrolle der Pandemie und der Gesundheit der Einzelnen im höchsten Maße zuträglich sein.
Vielen Dank für das Gespräch!