Kollektives Abnehmen
Den Briten geht’s jetzt an die Pfunde
Zum wiederholten Mal soll eine Kampagne der Regierung die britische Bevölkerung zum Abnehmen ermuntern. Ärzte zweifeln, dass es diesmal besser klappt.
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Premier Boris Johnson, hier beim Besuch einer Käsefabrik in Schottland, wirbt für kollektives Abnehmen auf der Insel.
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London. Zwei Kilo soll jeder Brite in diesem Sommer und noch vor der für den Herbst erwarteten zweiten Corona-Welle im Königreich abnehmen – das ist das erklärte Ziel der Londoner Regierung. Um dies zu erreichen, startete das Londoner Gesundheitsministerium zu Beginn dieser Woche eine groß angelegte Informations- und Initiativenkampagne.
Großbritannien
Kollektives Abnehmen: Briten sollen schlanker werden
Britische Ärzte sind skeptisch. Die Vorbehalte der britischen Ärzteschaft kommen nicht von ungefähr. Seit den 80er Jahren startet die Regierung in regelmäßigen Abständen solche Kampagnen. Früher mit aufwendigen Anzeigenserien in Tageszeitungen und Publikumszeitschriften, in Radio und Fernsehen. Heute eher in den sozialen Medien und im Internet.
Doch trotz Millionenausgaben für „public health campaigns“ ist die Zahl der übergewichtigen beziehungsweise adipösen Patienten im Königreich in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Heute sind nach Angaben des Londoner Gesundheitsministeriums in Großbritannien deutlich mehr als 60 Prozent der Patienten übergewichtig beziehungsweise adipös. Tendenz: weiter steigend.
Auch die britische Ärzteschaft und hier besonders die britischen Hausärzte wurden von der Politik regelmäßig in die Anti-Fettleibigkeits-Kampagnen involviert – mit bestenfalls überschaubaren Erfolgen.
Vorherige Kampagnen mit wenig Erfolg
„Das Problem ist, dass wir Ärzte im Praxisalltag ohnehin nicht genug Zeit haben, alle Patienten zeitnah und angemessen zu versorgen“, so der Londoner Hausarzt Dr. Peter Hall. Hall arbeitetet seit mehr als 30 Jahren für den staatlichen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS).
Hall, der in einer NHS-Gemeinschaftspraxis im Süden Londons praktiziert, hat unzählige öffentliche Aufklärungskampagnen kommen und gehen gesehen. Geändert habe sich in all den Jahren wenig: „Viele meiner Patienten sind noch immer zu dick.“ Es fehle schon in den Kindergärten und Schulen an wirkungsvoller Information.
Die jüngste Kampagne ist gewiss genau wie all ihre Vorgänger gut gemeint – und sie hat durch die COVID-19-Pandemie, die das Königreich härter getroffen hat als viele andere europäische Länder, plötzlich auch eine besondere Dringlichkeit bekommen. COVID-19 kann bekanntlich die Mortalität bei schwer erkrankten Patienten deutlich erhöhen.
Aktuelle Zahlen aus Großbritanniens Intensivstationen zeigen, dass der Anteil der morbid adipösen schwerkranken COVID-19-Patienten mit acht Prozent mehr als doppelt so hoch liegt wie deren Anteil in der britischen Allgemeinbevölkerung (2,9 Prozent).
Radfahren auf Rezept
Ab sofort können die Briten beispielsweise zu ihrem Hausarzt gehen und sich dort einen Fahrrad-Gutschein im Wert von umgerechnet etwas mehr als 50 Euro verschreiben lassen. Diese insgesamt 50 .000 Rad-Gutscheine sollen nach Vorstellungen von Gesundheitsminister Matt Hancock „Patienten zu mehr Bewegung motivieren“. Die Gutscheine können in Fahrradgeschäften eingelöst werden. Entweder um ein altes Rad wieder funktionstüchtig zu machen oder um ein neues Rad zu kaufen.
Weitere Maßnahmen gegen Übergewicht, Adipositas und andere ernährungsbedingte Krankheiten sind ein Werbeverbot für Junk Food im Fernsehen vor 21 Uhr, ein Verbot von Sonderangeboten für bestimmte Produkte mit hohem Fett-, Zucker- oder Salzgehalt und eine bessere Kennzeichnungspflicht für verpackte Lebensmittel und für Essen in Restaurants, wo zukünftig schon auf der Speisekarte Kaloriengehalt und andere Nährwertangaben klar ausgewiesen werden sollen.
Johnson will als gutes Beispiel vorangehen
Premierminister Boris Johnson, der selbst sichtlich übergewichtig ist und im Frühjahr eine schwere COVID-19-Erkrankung überstand, postete einen Clip, in dem er mit seinem Hund spazieren geht. Er neige zu Übergewicht und die regelmäßige Bewegung helfe ihm, sein Gewicht stabil zu halten, so der Regierungschef, der stets schnell begreift was – häppchenweise verpackt in kurze Soundbites und Bilder – beim britischen Publikum gut ankommt.
„Im Ansatz gut aber …“ – so beurteilen britische Ärzte und Public-Health-Experten das neue Maßnahmenpaket der Londoner Regierung. Als Beispiel für die bestenfalls Halbherzigkeit im neuen Kampf gegen Fettleibigkeit nennen die Experten zum Beispiel die Tatsache, dass alkoholische Getränke nach wie vor nicht klar bezüglich ihres Kaloriengehalts und anderer Angaben ausgezeichnet werden müssen.
Immerhin kündigte Gesundheitsminister Hancock an, zu diesem Thema ein Beratergremium einberufen zu wollen. Freilich: Die Alkohol-Lobby hat in Großbritannien großen Einfluss.