Kommentar zum Inzidenz-Streit

Der RKI-Chef macht nur seinen Job

Die vierte Corona-Welle baut sich auf. Wissenschaft und Politik liegen in der Deutung der Fakten nicht immer auf einer Linie. Und das hat seine Gründe.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:

RKI-Chef Lothar Wieler hat seinen Job gemacht und die Leiter der Staatskanzleien der Länder für das Treffen am 10. August über die Corona-Lage informiert. Die nervösen bis ablehnenden Reaktionen von Gesundheitsminister Jens Spahn und aus der Riege der Ministerpräsidenten zeigen, dass angesichts der sich aufbauenden vierten Welle an Corona-Infektionen die Nerven blank liegen. Wissenschaft und Politik rasseln aneinander.

Was genau aber ist eigentlich passiert? Wieler hat bei seinem Vortrag die Sieben-Tage-Inzidenz als frühesten aller Indikatoren und Leitindikator für Infektionsdynamik bezeichnet. Damit hat er zweifellos recht. Erst kommt der Anstieg der Infektionen, dann folgen mögliche Hospitalisierungen, Intensivbehandlungen sowie Long-COVID und Tod.

Es ist nicht umgekehrt. Zur Aufgabe der Wissenschaft gehört es, solche Bedingungen aufzuzeigen. Die Politik legt ihren Fokus – und auch das ist verständlich – eher auf die Akzentuierung des Silberstreifs am Horizont. Minister Spahn, aber auch einige der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten erwecken den Eindruck, sie wollten die Inzidenz als handlungsleitenden Wert in der Pandemie zumindest schwächer gewichten.

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Politiker haben anders als Wissenschaftler die Möglichkeit, mit Prämissen freier umzugehen. Die aktuelle Sprachregelung lautet: Je mehr Menschen geimpft sind, desto weniger sagt die Inzidenz aus. Aus Sicht der Exekutive eröffnet diese – allerdinge noch unbewiesene – Formel mehr Optionen: Je weniger die Inzidenz beachtet werden muss, desto schneller lässt sich das darauf aufsetzende Regelwerk an freiheitseinschränkenden Maßnahmen zurückbauen.

Das bedeutet aber auch, sich an anderer Stelle gleich wieder gegen wissenschaftliche Bedenken zu stellen. Auf der Suche nach Zielgruppen für die Impfung sind längst Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren im Visier. Die unabhängige Ständige Impfkommission will aber trotz allen Zerrens und Ziehens der Politik, aber auch anderer Arztgruppen dafür keine generelle Empfehlung abgeben. Das gebe die Studienlage noch nicht her, heißt es.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder ätzte unlängst darauf hin, die Mitglieder der Ständigen Impfkommission seien ja nur ehrenamtlich tätig. Die Profis säßen bei der Europäischen Arzneimittelagentur, die die mRNA-Impfstoffe für diese Altersgruppe freigegeben habe. Vorsicht, Herr Söder! Das kann als Foul an der wissenschaftlichen Integrität der Ärzteschaft gewertet werden. Und übrigens: Die meiste Arbeit in politischen Parteien wird ehrenamtlich geleistet.

Schreiben Sie dem Autor: anno.fricke@springer.com

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Kommentare
Prof. Dr. Ingo Heberlein 02.08.202120:39 Uhr

Söder weiß es besser als die Stiko. Werden künftig die Impfempfehlungen nach politischen Kriterien erfolgen, mit Blick auf Wahlen etc. etc.? Söder sollte zur Kenntnis nehmen, dass nicht jede Zulassung eines Impfstoffs gleich bedeutend ist mit einer Impfempfehlung ohne Rücksicht auf die Krankheitslast.

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