Missbrauch im Morbi-RSA
Diagnosen: BVA-Präsident mahnt zu Ehrlichkeit
Upcoding soll der Vergangenheit angehören. Der oberste Hüter des Finanzausgleichs der Kassen untereinander kündigt verschärfte Kontrollen an. Für Korrekturen an den Diagnosen erhalten Ärzte keine Extravergütung mehr.
Veröffentlicht:Das Hauen und Stechen der verschiedenen Kassenlager untereinander wird sobald kein Ende nehmen. Öl ins Feuer gießt ein Gutachten des Berliner IGES-Instituts. Die Gutachter stellen fest, dass die Kassen auch nach den jüngsten Eingriffen des Gesetzgebers noch Möglichkeiten besäßen, ärztliche Diagnosen zu beeinflussen, um so höhere Zuwendungen aus dem Gesundheitsfonds zu erwirken.
Darauf hat am Dienstag der Präsident des Bundesversicherungsamtes Frank Plate reagiert. "Vertragsärzte dürfen sich allein für die Vergabe und Dokumentation von Diagnosen keine wirtschaftlichen Vorteile gewähren lassen", hat Plate nun verkündet. Alle Kassen haben am Dienstag ein Schreiben mit der Überschrift: "Sicherung der Datengrundlagen für den Risikostrukturausgleich" erhalten. Mit dieser Formulierung aus dem SGB V (Paragraf 273) stellt Plate klar, dass er sich nicht nur an die bundesweit geöffneten Kassen wendet, sondern auch an die regionalen AOKen, also an alle am Risikostrukturausgleich teilnehmenden Krankenkassen. Plate kündigt darin an, sich Prüfungen "vor Ort", also wohl auch in den Rechenzentren der Kassen, vorzubehalten. Nicht zuletzt sollten so "Korrekturbeträge" ermittelt werden, die wieder in den Gesundheitsfonds zurückfließen sollen. Das Schreiben ist so formuliert, als dürfe man die Existenz von zu Unrecht eingenommenen Geldbeträgen getrost voraussetzen.
BVA mit Zuckerbrot und Peitsche
Nach der Peitsche bietet Plate einen Bissen Zuckerbrot an: Von Strafaufschlägen – laut aktueller Gesetzesänderungen sind bis zu zehn Millionen Euro möglich – könne das BVA ganz oder teilweise dann absehen, wenn eine Kasse von sich aus auf Fehler bei der Datenmeldung hinweise und sich "aktiv an der Sachverhaltsermittlung" beteilige.
Zum Schluss fordert Plate die Kassen zu "rechtmäßigem Verhalten" auf, das zu "fairem und solidarischem Wettbewerb der Kassen untereinander" beitrage.
Gesetzgeber schließt Schlupflöcher
Das IGES-Gutachten kommt zu dem Fazit, dass die gesetzlichen Eingriffe noch nicht das Ende möglicher Manipulationen am Morbi-RSA bedeuten dürften. Mit diesen an das Heil- und Hilfsmittelgesetz angehängten Paragrafen hat der Gesetzgeber klargestellt, dass die vom Arzt an die Kassenärztliche Vereinigung übermittelten Diagnosen unverändert an die Kassen weitergeleitet werden müssten, nachträgliche Korrekturen und Ergänzungen mithin nicht zulässig seien. Gleiches gilt auch für eine Beratung von Ärzten und Psychotherapeuten in Sachen Diagnosestellung und Dokumentation durch die Kassen. Beeinflussungen des Kodierverhaltens durch die Praxissoftware hat der Gesetzgeber ebenfalls für unzulässig erklärt. Der Bundestag reagierte auf den Hinweis von TK-Chef Dr. Jens Baas, dass Diagnosemanipulationen an der Tagesordnung seien. So versuchten die Kassen, sich höhere Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds zu verschaffen.
"Das SGB V bietet den Krankenkassen Spielraum, um die ärztliche Diagnosestellung im ambulanten Sektor auf Basis von Verträgen mit einem Vergütungsanreiz zu versehen", heißt es nun in dem IGES-Gutachten. Darin sind die am 11. April in Kraft getretenen gesetzlichen Änderungen bereits berücksichtigt. Als Beispiel nennen die Autoren die Chronikerpauschale der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV). Je nach Interpretation durch die Aufsichtsbehörden bestehe die Gefahr, dass die bislang für die nun ausdrücklich nicht mehr zulässigen Betreuungsstrukturverträge ausgegebenen Mittel in Diagnosebeeinflussung in hausarztzentrierten Verträgen umgeleitet würden. Aus der Analyse von 107 Verträgen haben die IGES-Gutachter allein für die Incentivierung von Diagnosestellungen Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung von 290 Millionen Euro pro Jahr im Schnitt der letzten drei Jahre hochgerechnet.
Trotz der Eingriffe des Gesetzgebers und der Drohungen des BVA-Präsidenten bleiben offene Baustellen. Ein Beispiel: Inwieweit sich Ärzte von Software unterstützen lassen dürfen, sei nicht einheitlich geregelt, moniert das IGES. Die Autoren des Gutachtens schlagen vor, die Kassenärztliche Bundesvereinigung solle schon bei der Zertifizierung der Software ein Auge auf das Manipulationspotenzial zu haben.
1 Mrd. Euro haben die gesetzlichen Krankenkassen in den vergangenen drei Jahren ausweislich eines IGES-Gutachtens für die Beeinflussung von Korrekturen an Diagnosen ausgegeben. Darin enthalten sind auch solche Korrekturen, die zu richtigen Diagnosen geführt haben.