Leitartikel

Die Corona-Krise und die starke Macht der Gewohnheit

Die Krise wird uns zu besseren Menschen machen – darauf hofften viele zu Beginn der Coronavirus-Pandemie. Doch die Entwicklung zeigt: Nichts wird sich ändern, wenn wir nicht unsere eigene Trägheit überwinden.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Wird die Welt nach der Krise ein schönerer Ort sein? Viele hegen die Hoffnung, aber die Chancen dafür sind nicht besonders groß.

Wird die Welt nach der Krise ein schönerer Ort sein? Viele hegen die Hoffnung, aber die Chancen dafür sind nicht besonders groß.

© alex.pin / stock.adobe.com

Davon träumen viele: Dass das, was einem schon lang auf die Nerven geht, mit einem Schlag vorbei sein möge. So kann ein neuer Morgen anbrechen, gereinigt und voller Zuversicht.

Der Zukunftsforscher Matthias Horx hat in der Anfangsphase der Corona-Krise geschrieben, es werde nach Corona keine Rückkehr zur Normalität geben. „Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Wir nennen sie Bifurkationen. Oder Tiefenkrisen. Diese Zeiten sind jetzt. Die Welt ‚as we know it‘ löste sich gerade auf“, so Horx.

In den Wochen, als die Infektionszahlen anwuchsen und das Virus noch viel mehr Unheimliches hatte als heute, waren Horx‘ Worte eine Wohltat. Sie ersetzten die heraufkriechenden Pest- und Ebola-Szenarien in Zusammenhang mit dem Coronavirus durch eine künftig helle und bewohnbare Welt, eine Welt, die besser werden würde als die gegenwärtige.

Eine Welt voller Menschen, die lernen, die entschlossen sind, alte Fehler nicht noch einmal zu machen, die eines Tages „rückwärts staunen“ werden, wie Horx meint, „wie viel Humor und Mitmenschlichkeit in den Tagen des Virus tatsächlich entstanden ist“.

„Zukunfts-Intelligenz“ soll aus der Angststarre führen

Richtig ist ja, dass die Bilder der Zukunft Projektionen sind: Ein ins Morgen projiziertes, aufgeblasenes Heute mit womöglich düsterem Ende. Klar, dass da die Angst vor dem bösen Ende alle Kreativität und Lebensfreude in Geiselhaft nahm und paralysiert in den Abgrund starrte.

Horx erinnert in seinem Text daran, dass solche Düsternis kein Verhängnis ist, sondern eine Sache der Perspektive. Er ersetzt die bedrohlichen Bilder durch „eine Erkenntnis-Schleife“, in der wir uns selbst, unseren inneren Wandel in die Zukunftsrechnung einbeziehen. Wir setzen uns innerlich mit der Zukunft in Verbindung, und dadurch entsteht eine Brücke zwischen Heute und Morgen. Es entsteht ein „Future Mind – Zukunfts-Bewusstheit“, schreibt er.

Sodann ruft Horx die „Zukunfts-Intelligenz“ aus, die aus der Angst-Starre wieder in die Lebendigkeit führe.

Allzu blumige Perspektive

Also – wird alles besser, wenn alles vorbei ist? Plötzlich würden dann die Menschen lieber mit der Bahn fahren als von Hamburg nach München zu fliegen? Plötzlich entdeckten die wildfremden Nachbarn ihre soziale Ader und würden zum Grillen einladen – zu Getreide-Burgern und Tofu-Würstchen, versteht sich?

Plötzlich wären die knallharten Banker voller Empathie? Und die oft skeptische Haltung Ärzten und Pflegenden gegenüber würde einer dauernden Wertschätzung weichen?

Wirklich? Nein, Horx Perspektive dürfte doch allzu blumig sein. Denn die Erfahrung zeigt, dass dem frohen Beginnen nach der Krise eine geradezu unheimliche Macht gegenüber steht, die fast unüberwindlich ist: die Gewohnheit. Der Wunsch nach Normalität wie wir sie kennen, zurück ins gewohnte Gehäuse des Alltags ist riesig.

Es ist schwer, Menschen zu Veränderungen zu bewegen

Da muss man kein Fan der Ballermann-Lokale auf Mallorca sein, um zu erleben, welcher „Mind“ statt des „Future Mind“ tatsächlich herrscht: die Trägheit. Sie verhindert es, sich innerlich von der Couch zu erheben und den Gewohnheiten entgegenzutreten.

Stattdessen schläft jeder Veränderungsversuch selig ein. Jeder Arzt, der mit Diabetes-Patienten darüber spricht, die Ernährung zu verändern, kennt solche Trägheit.

Man braucht sich aber nicht unbedingt Patienten vor das innere Auge zu rufen. Ein Blick auf die eigenen Routinen hilft auch weiter. Versuchen Sie mal, Ihren morgendlichen Ablauf vom Aufwachen bis zum Arbeitsbeginn nur ein wenig zu verändern. Ein Kraftakt! Die Gewohnheiten sind unerbittlich und die Trägheit lässt sie gewähren.

Zwischenzeitlichen Veränderungen stimmt sie nur zu, wenn sie dazu gezwungen wird und auch nur mit der Ankündigung: „Es ist nur für begrenzte Zeit! Bald wird alles wieder wie früher!“ Und sobald sich die Gelegenheit ergibt, schlägt die Stunde des Trägen. Er kehrt zurück zu seinem Alltag. Er führt ein Leben aus Gewohnheit.

Wunsch nach dem Gewohnten

Das Ganze wäre ja nicht so dramatisch, wenn es sich nur um morgendliche Rituale drehte. Doch allerorten werden die Gewohnheiten heute schon, wo die Corona-Epidemie in Deutschland etwas abklingt, wieder aufgenommen – im Flugverkehr, beim Shoppen und Feiern, am Ballermann und man darf damit rechnen, dass es in Ischgl im Großen und Ganzen den gleichen Zirkus geben wird, wie in den zurückliegenden Jahren. Vermutlich ist der drohende Rückfall bei den Infektionen in Spanien auch Ergebnis des Wunsches nach Gewohntem.

Und trotzdem könnte die Corona-Krise etwas Gutes bewirken, weil sie durch den Lockdown und die erzwungene Untätigkeit die Möglichkeit eröffnete, mehr nachzudenken. So könnte die Krise die Frage provozieren, wofür es sich – zum Beispiel als Arzt – wirklich lohnt zu arbeiten. Sie könnte die Frage provozieren, welche Wachheit und Energie es braucht, um nicht wieder in den alten Gewohnheiten einzuschlafen.

Um etwa Klimaziele zu erreichen oder Ungerechtigkeiten im Gesundheitssystem zu beenden, wird es keine Kehrtwende geben, die Welt „as we know“ wird sich nicht auflösen. Eher ist die Vorstellung, eine Krise könnte von sich aus solche Veränderung bringen, schon Teil der Trägheit. Soll die Krise doch schaffen, wofür ich zu bequem bin!

Die Trägheit ist der ärgste Feind der Veränderung

Aber vielleicht ist es möglich, so etwas wie eine sehr lang gezogene Kurve hin zum Besseren zu beschreiten. Gewiss, man könnte sich empören über die Ungerechtigkeit, die Ausbeutung und Armut im Land. Stichwort: Tönnies.

Man könnte sich auch empören über die Missachtung der Pflege. Man könnte sich entschließen, das alles nicht mehr zu akzeptieren und sich zum Handeln aufzuraffen. Aber das dürfte man beständig und immer wieder tun müssen, bevor es langsam, langsam besser wird.

Dieser Weg ist allerdings nichts für Leute, die nach der Krise so weitermachen wollen wie vorher. Es ist der zunächst unbequeme Weg derer, die – Krise hin oder her – in der eigenen Trägheit den wirklichen Gegner erkannt haben.

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