Die Zahl der Suizide war ein Politikum

Die Selbstmordrate war in der DDR anderthalb mal höher als in der Bundesrepublik. Das lässt sich aber wohl nicht allein auf die Lebensumstände zurückführen.

Christiane BadenbergVon Christiane Badenberg Veröffentlicht:

Nach der Wiedervereinigung ist die Zahl der Selbstmorde im Gebiet der ehemaligen DDR deutlich gesunken. Besonders gut nachweisen lässt sich das anhand der "Magdeburger Suizidstudie" des Psychiaters und Psychotherapeuten Dr. Axel Genz.

Wieso es in der DDR erheblich mehr Selbsttötungen gab als im Westen, dafür gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Die höhere Suizidrate kann allerdings nicht allein auf die Lebensumstände in der Diktatur zurückgeführt werden. Das zeigen Untersuchungen des Leipziger Historikers Dr. Udo Grashoff.

Genz, Oberarzt der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin in Magdeburg, hat aus mehr als 33 000 Magdeburger Totenscheinen alle Selbstmorde herausgefiltert. Dabei wertete er zwei Zeiträume aus.

Einmal die Jahre 1985 bis 1989 sowie 1999 bis 2004. Insgesamt hatten sich in diesen Jahren 676 Magdeburger das Leben genommen. Mehr als 400 vor der Wende, über 200 danach. Die Zahl der Suizide war also um etwa 50 Prozent gesunken.

Bei seinen Recherchen hat Genz am meisten erstaunt, dass vor allem bei über 65-Jährigen die Suizidrate nach 1990 deutlich gesunken ist. Nahmen sich im Untersuchungszeitraum vor der Wende 83 Männer und 80 Frauen das Leben, waren es nach der Wende nur noch 11 Männer und 13 Frauen.

Genz geht davon aus, dass sich für Menschen dieser Altersgruppe das soziale Umfeld deutlich verbessert hat. Sie könnten reisen, sich in Vereinen treffen oder ihren Hobbys nachgehen. Zudem würden Großeltern häufig für die Betreuung der Enkelkinder benötigt. Das verleihe das Gefühl, gebraucht zu werden.

Verbessert habe sich auch die Betreuung in Pflegeheimen, in denen die Patienten sich früher häufig selbst überlassen worden seien. In der Psychiatrie habe sich nach der Wende viel getan: So praktizierten 1990 in Magdeburg lediglich fünf Psychotherapeuten, heute sind es 70.

Aber auch andere Faktoren haben laut Genz zum Rückgang der Suizidrate beigetragen. So sei es heute nicht mehr so leicht möglich, sich auf eher "sanftem Weg" das Leben zu nehmen. In der DDR hatte sich jede fünfte Selbstmörderin mit Gas vergiftet. Nachdem von Stadtgas auf Erdgas umgestellt wurde, ist Tod durch Gasvergiftung kaum noch möglich. Auch Suizid durch die Einnahme von Barbituraten ist nahezu ausgeschlossen, weil diese nicht mehr frei verfügbar sind.

Prinzipiell lag die Suizidrate in der DDR anderthalb mal höher als in Westdeutschland. Allerdings war ein Rückgang schon seit Beginn der 80er Jahre zu erkennen, wie der Leipziger Historiker Dr. Udo Grashoff 2006 in seiner Dissertation nachgewiesen hat. Die hohe Selbstmordrate ausschließlich auf die Lebensumstände in der Diktatur zurückzuführen hält er deshalb für nicht zulässig.

Zu berücksichtigen sei zudem, dass in Sachsen und Thüringen die Zahl der Suizide schon im 19. Jahrhundert deutlich über dem deutschlandweiten Durchschnitt gelegen hätte. Als Ursache sieht Grashoff die protestantische Tradition in dieser Region. In katholisch geprägten Landstrichen ist die Selbsttötungsrate niedriger, weil Suizid als Todsünde gilt.

Wie Genz weist auch Grashoff daraufhin, dass die Suizidraten bei alten Menschen sehr hoch waren. Die Hälfte aller Selbstmörder war bereits im Rentenalter, im Westen lag der Anteil dieser Altersgruppe dagegen bei 30 Prozent.

Die Suizidzahlen waren auch ein Politikum. Vor allem als sich zeigte, dass nach dem Bau der Mauer die Zahl der Selbstmorde um zehn Prozent gestiegen war. Die Selbsttötungen wurden zwar akribisch erfasst, aber die Zahlen unter Verschluss gehalten, da eine hohe Rate an Selbstmorden als Versagen des Sozialismus interpretiert wurde.

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