Prävention

"Erste 1000 Tage nach der Empfängnis entscheiden"

Übergewicht, Diabetes, Krebs: Nicht selten liegen auch schädigende perinatale Einflüsse zugrunde. Pädiater mahnen ein frühes Gegensteuern an.

Veröffentlicht:

KÖLN. Präventionsprogramme müssen früher als bisher einsetzen, um die langfristigen Gesundheitsrisiken durch schädigende perinatale Einflüsse minimieren zu können. "Die ersten 1000 Tage nach der Empfängnis sind kriegsentscheidend", sagte Professor Jörg Dötsch anlässlich des am Donnerstag startenden Kongresses für Kinder- und Jugendmedizin in Köln. "Im Kindergarten ist es oft schon zu spät, um eine falsch stattgefundene Prägung zu korrigieren."

Dötsch ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Uniklinik Köln und Tagungspräsident für die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Die Gene seien nicht statisch, sondern ein vorübergehender Umwelteinfluss an den Erbanlagen könne eine nachträgliche Veränderung bewirken und dauerhaft zu einem verstärkten Krankheitsgeschehen führen, sagte er. "Das Umfeld des Ungeborenen und des bis zu zwei Jahre alten Kindes beeinflusst nachhaltig die Gesundheit des Erwachsenen."

Als Erkrankungen, die unter anderem durch eine fehlgesteuerte Prägung begünstigt werden, nannte Dötsch Übergewicht, Diabetes mellitus, Herz-Kreislauferkrankungen, Nierenerkrankungen, Krebserkrankungen und psychiatrische Erkrankungen. Die Prägung durch die nachträgliche Veränderung der Funktion des Erbgutes kann nach seinen Angaben in den ersten 1000 Tagen teilweise rückgängig gemacht werden – vorausgesetzt, es wird früh gegengesteuert.

Das gelte zum Beispiel beim Thema Gewicht und Ernährung. "Ein Großteil der Prägung auf das Übergewicht findet wahrscheinlich vor dem Kindergarten statt." Eine Ernährungsumstellung in Kindergarten oder Schule komme sehr oft zu spät.

"Es ist wichtig, schon die werdenden Mütter gut zu betreuen", betonte der Pädiater. Einer der entscheidenden Faktoren ist für ihn das konsequente und ausreichend lange Stillen der Säuglinge. Hier sieht er die Kliniken in der Pflicht, die Mütter entsprechend zu unterstützen. Zudem sei es wichtig, auf eine frühe gesunde Ernährung und Bewegung für den Säugling und das Kleinkind zu achten. (iss)

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Kommentare
Dr. Stefan Graf 21.09.201723:33 Uhr

Genetik versus Epigenetik

Lieber Herr Dr. Schätzler,

ich lese Ihre kompetenten Kommentare immer sehr gern. Zum Ihrem vorliegenden Beitrag möchte ich aber einige "interdisziplinäre" Anmerkungen (von Molekularbiologe zu Arzt)machen. I
ich stimme Ihnen zu, dass nicht "nur" die ersten 1.000 Tage Möglichkeiten für epigenetische Umprogrammierung bieten, diese Phase scheint aber besonders sensibel zu sein. In Ihrem Hinweis auf die "Epigenetik-THEORIE" glaube ich eine gewisse Skepsis gegenüber den aktuellen Erkenntnissen der Genregulationsforschung zu erkennen. Die Grundlage Ihrer kritischen Einstellung scheint mir in einer zu unscharfen Trennung zwischen Genetik und Epigenetik zu liegen, auf die wir Molekularbiologen bei Fortbildungen für Ärzte häufig treffen. Das wird in dem folgendem Ihrer Sätze (mit Bezug auf den Beitrag) deutlich:

"Dass unsere menschlichen Gene nicht statisch sind, sondern [..] im Sinne einer Epigenetik-Theorie nachträglich verändert werden und dauerhaft zu einem verstärkten Krankheitsgeschehen führen können,[..]Dagegen sind allerdings auch DNA- und RNA-"repair"-Mechanismen beschrieben."

Epigenetische Mechanismen bewirken NICHT(!), dass Gene nachträglich verändert werden - der Bauplan (die Nukleotidsequenz) bleibt völlig unverändert. Das unterscheidet ja epigenetische Modifikationen von genetischen Mutationen. Nur letztere sind dauerhafte Gen-Veränderungen und auch nur bei solchen kommen die von Ihnen genannten Reperaturmechanismen (Excisionrepair, Photolyase etc.) zum Zuge. Epigenetik hingegen verändert die Aktivitätsmuster der Gene ohne deren Bausteinfolge, also ihren Informationsgehalt, zu verändern. Daher spricht man ja auch von "Genschaltern oder -modulatoren". Wie diese Modulation der Genaktivitäten erfolgt - z.B. durch Methylierung von DNA-Verpackungs-Histonen, durch RNA-Interferenz u.a. - wird gerade intensiv beforscht.
Genom = "nicht-prägbarer" bzw. gezielt durch Lebensstil veränderbarer Genotyp, der nur durch nicht steuerbare Mutationen (+ Rekominationen) verändert werden kann. Epigenom = Genregulationsmuster (Methylierungsmuster...), welches das Genom (den Informationsgehalt der DNA) nicht verändert. Auch diese Muster werden an die Nachfolgergeneration weitergegeben. Aber im Gegensatz zum unveränderbaren Genom ist das Epigenom zeitlebens über Lebensstil/Umwelteinflüsse veränderbar. ALlerdinmgs scheint es dafür besonders sensible Phasen zu geben (s. die 1000Tg oben). Avrum Spira und sein Team von der Universität Boston haben z.B. die Veränderung der Aktivität vom Onkogenen und Tumorsuppressorgenen durch Rauchen beforscht (https://www.researchgate.net/publication/10887576_Gene_Expression_in_Lung_Adenocarcinomas_of_Smokers_and_Nonsmokers)
Zu den epigenetischen Folgen von Adipositas gibt es interessante Helmholtz-Studien, die reproduzierbare Veränderungen in den Methylierungsmustern von fast 200 Genen aufdeckten, die eindeutig vom Grad des Übergewichts abhängig sind. Die Gene selbst sind unverändert! (http://www.nature.com/nature/journal/v541/n7635/full/nature20784.html
https://www.helmholtz-muenchen.de/aktuelles/uebersicht/pressemitteilungnews/article/37115/index.html).

Beste Grüße

Dr. Stefan Graf, Berlin

Dr. Thomas Georg Schätzler 21.09.201716:38 Uhr

Ich möchte zu bedenken geben...

dass bei den großen Krankheitsthemen Übergewicht, Diabetes, Krebs keineswegs nur die "ersten 1000 Tage nach der Empfängnis entscheiden". Denn dann wären ab dem Eintausend-und-einsten Tag alle unsere weiteren medizinisch-ärztlichen bzw. präventiven Bemühungen vergebens.

Es verwundert auch, wenn der Chef der Kölner Kinderklinik formuliert haben soll: "Die ersten 1000 Tage nach der Empfängnis sind kriegsentscheidend"? Wir Ärztinnen und Ärzte führen weder Krieg gegen Krankheiten, noch gegen die uns anvertrauten Patientinnen und Patienten. Wir Befragen, Untersuchen, Diagnostizieren und Behandeln, aber selbst beim Bekämpfen von Krankheiten versuchen wir, kriegstypische Kollateralschäden so gering wie möglich halten und verschonen Unbeteiligte.

Dass unsere menschlichen Gene nicht statisch sind, sondern durch endogene Anlagen, Stoffwechsel-, bzw. exogen chemisch-physikalische, toxische oder infektiöse Umwelteinflüsse im Sinne einer Epigenetik-Theorie nachträglich verändert werden und dauerhaft zu einem verstärkten Krankheitsgeschehen führen können, ist nun wirklich keine Überraschung. Dagegen sind allerdings auch DNA- und RNA-"repair"-Mechanismen beschrieben.

Aber bis heute fehlen wissenschaftliche Nachweise, dass Erkrankungen, die unter anderem durch eine angeblich fehlgesteuerte epigenetische Prägung wie Übergewicht, Diabetes mellitus, Herz-Kreislauferkrankungen, Nierenerkrankungen, Krebserkrankungen und psychiatrische Erkrankungen sich außerhalb von bio-psycho-sozialen Bedingtheiten genetisch in der nachfolgenden Generation exprimieren und durchsetzen können. Sonst müssten z. B. Kinder von Hochofenarbeitern oder Köchinnen und Köchen besonders hitzeunempfindlich sein.

Ein Großteil der Prägung zum Übergewicht findet bio-psycho-sozial nachvollziehbar bereits vor dem Kindergarten-Alter statt. Aber eine Ernährungsumstellung und Krankheitsprävention primär und sekundär ausschließlich v o r dem Kindergarten oder der Schulzeit erzwingen zu wollen verkennt die versorgungs- und präventivmedizinischen Umsetzungsmöglichkeit bzw. überhöht ein bis heute nicht bewiesenes epigenetisches Geschehen.

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

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