Grauzone Hirndoping
Gefährliche Leistungssteigerer?
Immer mehr Menschen setzen auf Medikamente, um ihre kognitive Leistung zu steigern. Dabei sind sie bisher kaum erforscht - und möglicherweise maßlos überschätzt. Psychiater fordern jetzt eine bessere Aufklärung.
Veröffentlicht:CAMBRIDGE. Eine Pille, um die Prüfung besser zu überstehen oder die Nachtschicht durchzuhalten, eine Tablette, um ein wichtiges Projekt mit wenig Schlaf zu vollenden - nicht immer werden Stimulanzien und andere kognitive Enhancer streng nach medizinischer Indikation genommen.
Glaubt man Umfragen und Verordnungsstatistiken, so hat in den vergangenen Jahren der Anteil der Personen deutlich zugenommen, die ihren geistigen Fähigkeiten mit chemischen Wirkstoffen auf die Sprünge helfen wollen.
Nach dem aktuellen DAK Gesundheitsreport hat sich der Anteil der Arbeitnehmer unter den gesetzlich Versicherten, die Substanzen wie Methylphenidat, Piraceton, Fluoxetin und Metoprolol verordnet bekamen, seit 2008 von 4,7 auf 6,7 Prozent erhöht.
Die DAK wirft Ärzten vor, zu oft und zu schnell leistungssteigernde oder stimmungsaufhellende Medikamente zu verschreiben.
Grauzone zwischen Therapie und Lifestyle
Britische Psychiater wollen in einer aktuellen Stellungnahme zur Diskussion ums Hirndoping den Schwarzen Peter jedoch nicht bei den Ärzten belassen: Sie sehen durchaus eine gewisse Grauzone zwischen einer therapeutischen Anwendung und einem Hirndoping zur persönlichen Leistungssteigerung (Lancet Psychiatry 2015; 2: 357).
"Oberflächlich mag eine klare Trennung zwischen medizinischem und nichtmedizinischem Gebrauch nützlich erscheinen, in der Praxis verwischen jedoch die Grenzen", schreiben Professor Barbara Sahakian und Dr. Sharon Morein-Zamir vom Addenbrooke's Hospital in Cambridge.
So sind vielleicht einige der Konsumenten an einer bislang nicht erkannten psychischen Störung erkrankt und versuchen, sich mit den Mitteln selbst zu behandeln.
Die beiden Psychiater weisen darauf hin, dass kognitive Probleme bei einer ganzen Reihe solcher Krankheiten auftreten - oft jenseits der Indikationen, für die Modafinil, Methylphenidat und andere kognitive Enhancer zugelassen sind. Bekannt sind kognitive Probleme bei Psychosepatienten.
Aber auch Depressive und Patienten mit Zwangsstörungen leiden mitunter an einer geistigen Verlangsamung und Motivationslosigkeit. Kognitive Enhancer könnten bei vielen dieser Patienten die Therapiebereitschaft sowie die Compliance erhöhen und dadurch auch die Prognose verbessern, vor allem, wenn sie früh im Verlauf der Erkrankung zum Einsatz kommen.
"Die Kognition sollte früh, nachhaltig und in flexibler Weise während des gesamten Krankheitsverlaufs angegangen werden."
Auf der anderen Seite der Grauzone ist zu vermuten, dass viele Patienten mit einer Indikation für kognitive Enhancer diese nicht nur dafür, sondern darüber hinaus zum Hirndoping verwenden.
Und zuletzt könnten Situationen, denen wir heute keinen Krankheitswert beimessen, morgen durchaus Gründe für eine Verordnung sein. Sahakian und Morein-Zamir verweisen auf die heute schon sehr unterschiedlichen Indikationsstellungen für kognitive Enhancer in verschiedenen Ländern.
Der Nutzen wird offenbar häufig überschätzt
Statt künstlich Grenzen zwischen Therapie und Lifestyle-Konsum zu ziehen, sollten sich Gesetzgeber, die Akteure im Gesundheitswesen und die Industrie zunächst einmal zusammensetzen, um Nutzen und Risiken einer Anwendung pharmakologischer Enhancer bei weitgehend gesunden Personen besser zu untersuchen.
"Bisher wissen wir noch nicht einmal, wie viele gesunde Personen kognitive Enhancer warum und auf welche Weise verwenden."
Möglicherweise überschätzen auch viele Anwender den Nutzen der Mittel: Nach bisherigen Erkenntnissen sind ihre Auswirkungen auf die Kognition eher gering bis mäßig. So wird für Modafinil die Effektstärke mit einem Cohen's-d-Wert von 0,6 angegeben, was einer eher moderaten Wirksamkeit entspricht.
Insgesamt ist jedoch wenig über die Aus- und Nebenwirkungen von kognitiven Enhancern beim Lifestyle-Konsum bekannt. Die meisten der Mittel beeinflussen unterschiedliche Transmittersysteme: Dem gewünschten Effekt auf bestimmte Aspekte der Kognition stehen damit nicht gewünschte Wirkungen bei anderen Hirnfunktionen gegenüber.
Auch betreffe die gewünschte Wirkung oft nur Teilaspekte der Kognition: Einige der Mittel, etwa bestimmte COMT-Hemmer, verbesserten das Arbeitsgedächtnis, andere wie Modafinil steigerten die Vigilanz, aber hauptsächlich bei schlafdeprivierten Personen und deutlich weniger bei gut erholten und ausgeschlafenen Menschen, berichten die britischen Psychiater.
Hinzu kommen individuelle Unterschiede: So verbessert der COMT-Hemmer Tolcapone das Arbeitsgedächtnis nur bei bestimmten Genotypen. Schließlich müsse berücksichtigt werden, dass sich die Effekte bei akuter und chronischer Anwendung deutlich unterscheiden könnten.
Auf Ärzte steigt der Druck
Aufgrund dieser vielfältigen und unterschiedlichen Effekte könne man kognitive Enhancer nicht in einen Topf werfen, letztlich müsse von Fall zu Fall überprüft werden, wer von welchem Mitte in welcher Situation profitiere oder einen Schaden erleide.
Dieses Wissen sei gerade auch für Ärzte relevant, die sich einem steigenden Druck ausgesetzt sehen, solche Medikamente Patienten zu verordnen, bei denen keine klare Indikation dafür besteht.
Oft würden solche Patienten die Wirkung der Enhancer überschätzen und die Nebenwirkungen unterschätzen. "Letztlich müssen wir als Ärzte den besten Weg finden, um Schaden von den Patienten abzuwenden und sicherzugehen, dass kognitive Enhancer nur zu ihrem Nutzen angewandt werden", schreiben Sahakian und Morein-Zamir.
Aus diesen Gründen sei es dringend nötig, Langzeitrisiken und -nutzen der jeweiligen Mittel auch bei gesunden Menschen zu erforschen.