Ambulant statt stationär
Hausbesuch für die Seele
Das Vitos-Klinikum Marburg-Gießen erprobt ein Behandlungskonzept, das Patienten den Aufenthalt in der Psychiatrie verkürzt oder erspart. Dabei kommt die Therapie zu den Patienten nach Hause.
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Psychiatrische Versorgung im häuslichen Umfeld: Patientin Margit Werkis im Gespräch mit Psychiater Dr. Ulrich Oehlenschläger.
© Rolf K. Wegst
Marburg. Als Oberarzt Dr. Ulrich Oehlenschläger zum ersten Mal in die kleine Wohnung von Margit Werkis am Marburger Südbahnhof kam, stapelten sich Dutzende von Umzugskartons auf dem Fußboden.
Inzwischen hat die 71-Jährige ihr Hochzeitsbild und das Bob-Marley-Plakat aufgehängt, Plüschtiere und Püppchen auf dem Sofa drapiert. Lippenstift, Nagellack und Parfümfläschchen zeigen, wie sehr sie auf ihr Äußeres achtet.
Margit Werkes gehörte zu den ersten fünf Patienten, die in der Pilotphase von der „stationsäquivalenten psychiatrischen Behandlung“ (StäB) in Marburg profitierten. Nur zwei Wochen habe es gedauert, erzählt Margit Werkis: „Dann war ich wieder rucki-zucki die Alte“.
Die frühere Bürokauffrau leidet schon seit ihrer Jugend an einer schizophrenen Psychose. Mit 23 war sie zum ersten Mal in der Psychiatrie, dann immer wieder, wenn sie in eine Krise geriet.
Nach einer unglücklichen Ehe kam sie vor 25 Jahren nach Marburg, wo sie ihre große Liebe fand und noch einmal heiratete. Doch der geliebte Mann starb vor neun Jahren plötzlich an einem Herzinfarkt. „Da habe ich zwei Jahre gebraucht, um wieder zu mir zurückzufinden“, sagt Margit Werkis.
Fünf Wochen auf Station
Anlass für die jüngste Krise war der Umzug in die neue Wohnung am Marburger Südbahnhof, der nötig geworden war, weil das alte Domizil saniert werden muss. Monatelang hatte sie bereits auf gepackten Koffern gesessen, bevor die neue Wohnung bezugsfertig war.
Beim Umzug selbst ging dann noch einiges schief. Und das „heillose Durcheinander“ mit den 35 auszupackenden Kisten überforderte Margit Werkis. Sie hatte schlimme Albträume, sah überall Katastrophen und nahm ihre Medikamente wahllos.
Die Krise spitzte sich so zu, dass die sonst so beredte Frau nur noch zusammenhanglose Sätze von sich gab. Für fünf Wochen ging sie in die Vitos Klinik für Psychiatrie. Dann wollte sie nicht mehr bleiben.
Tägliche Visite auch zu Hause
„Wir erleben oft, dass Patienten wieder nach Hause wollen, obwohl wir denken, dass es noch viel zu früh ist“, sagt der stellvertretende Klinikdirektor Frank Dannhoff. Im Fall von Margit Werkis nahm die Klinik ihren Wunsch zum Anlass, sie in die stationsäquivalente Behandlung aufzunehmen.
Stationsäquivalent bedeutet, dass die Patientin Ärzte, Psychologen, Pflegekräfte, Sozialarbeiter und Pädagogen tatsächlich ebenso oft sieht wie auf der Station.
Jeden Tag, auch am Wochenende, kommt jemand vorbei. Medikamente werden von der Klinik gestellt. Dazu gibt es Fallbesprechungen und eine umfangreiche Dokumentation.
Selbst Laboruntersuchungen und EKGs werden bei den Patienten zu Hause vorgenommen. Viele sind nämlich auch körperlich krank, aber seit Jahren nicht beim Arzt gewesen, weil sie sich nicht aus dem Haus heraus trauen.
Im Vergleich strengeres Konzept
Auch wenn es sich für die Patienten wie eine ambulante Behandlung anfühlt, handelt es sich um ein deutlich strengeres Konzept mit weit engeren gesetzlichen Vorgaben als bei der ambulanten Versorgung.
Dannhoff hat daher ein ganzes Behandlungsteam mit Mitarbeitern verschiedener Stationen zusammengestellt. Dazu wurden Kooperationsverträge mit der Sozialen Hilfe und der Bürgerinitiative Sozialpsychiatrie in Marburg geschlossen und gemeinsame Fallbesprechungen vereinbart.
„Wir sehen die Menschen in ihrem gewohnten Umfeld. Das ist die große Chance“, sagt Dannhoff. Spannend ist dies auch für die Mitarbeiter, die damit einen anderen Blick auf die Patienten bekommen.

Dr. Ulrich Oehlenschläger sammelt seit 2018 Erfahrungen mit der Therapie zu Hause.
© Rolf K. Wegst
Vor Ort fällt schnell auf, was nicht funktioniert. Zugleich erleben die Mitarbeiter aber auch, wie viele Ressourcen die Patienten haben. Verena Vögl, Bezugsbetreuerin und Mitarbeiterin der Sozialen Hilfe, wusste das im Fall von Margit Werkis schon vorher. „Sehr eigenständig und sehr emanzipiert“ sei die 71-Jährige, die gern gemeinsam mit anderen koche und regelmäßig beim gemeinsamen Essen am Freitagabend helfe.
Allein zu sein fällt ihr allerdings auch nach eigener Einschätzung schwer. Deshalb waren die täglichen Besuche von der Station doppelt sinnvoll. Verena Vögl kam fast täglich, dazu Fachkrankenpfleger und natürlich Dr. Ulrich Oehlenschläger, den Margit Werkis in den höchsten Tönen lobt. „Ich höre sehr auf alle seine Ratschläge“, sagt sie. Nur rauchen tue sie immer noch zu viel.
„Das Pilotprojekt hat geholfen“
Nach ihrer Rückkehr packte sie die restlichen Kartons aus und lebte sich ein. Sogar ungewöhnlich schnell. Nach nur zwei Wochen war die intensive Betreuung nicht mehr nötig.
Heute hat sie Freundinnen im Haus, bei denen sie jederzeit klopfen kann, hört viel Musik, geht zum gemeinsamen Kaffeeklatsch und unternimmt Ausflüge. „Wenn ich nach Hause komme und meine Tür aufschließe, denke ich: Das ist mein Reich“, sagt sie. Nur an die vorbeiratternden Züge hat sie sich noch nicht ganz gewöhnt.
Auch die Klinik ist mit der Entwicklung sehr zufrieden. „Das Pilotprojekt hat geholfen, die Krise schneller zu überwinden“, sagt Oberarzt Ulrich Oehlenschläger. Er betont, wie lebenstüchtig und lebensfroh seine Patientin an guten Tagen ist.
Auch die weiteren Fälle, die während der Ende 2018 begonnenen Pilotphase gestartet wurden, waren erfolgversprechend. Etwa bei einem verhaltensauffälligen Patienten mit Demenz, bei dem die Angehörigen keine stationäre Behandlung wünschten, aber auch ein junger Mann, der das Haus seit zwei Jahren nicht verlassen hatte. Besonders geeignet sei das Konzept auch für Mütter mit schulpflichtigen Kindern.