Dokumentation light

Höhere Risiken für Pflegende?

Weniger Dokumentation, weniger Absicherung? Ein Trugschluss, sind sich Experten einig. Sie beruhigen: Pflegeeinrichtungen können guten Gewissens an der neuen Entbürokratisierung teilnehmen.

Von Jana Kötter Veröffentlicht:

NEU-ISENBURG/BERLIN. Die Pflegekraft bietet ein Glas Saft an - doch ihr Gegenüber möchte nichts trinken. Zwei zögerliche Schlucke nimmt der zu Pflegende, winkt dann ab und lässt das Glas stehen.

Also folgt der Eintrag im Trinkprotokoll: Datum, Uhrzeit, Angebot, die Erklärung, dass das Getränk abgelehnt wurde, die letztliche Getränkezufuhr, Kürzel. Und das bei jedem Getränkeangebot, bei jeder Zwischenmahlzeit, bei jedem morgendlichen Haarebürsten.

Dass im Pflegealltag so viel Zeit für die Dokumentation aufgewendet werden muss, soll sich nun jedoch ändern.

Flächendeckend sollen sich in den kommenden zwei Jahren mindestens 25 Prozent der knapp 25.000 Pflegeeinrichtungen in Deutschland einem neuen Strukturmodell zur Entbürokratisierung der Pflegedokumentation anschließen.

Doch bringt diese für die Pflegenden nicht rechtliche Risiken mit sich? Immerhin soll die Dokumentation - dank der Konzentration auf Ausnahme- statt Routinetätigkeiten in der Grundpflege und nur fünf statt bisher 13 Themenfelder in der Pflegeplanung - zum Teil auf ein Zehntel des ursprünglichen Umfangs schrumpfen.

"Rechtliche Risiken eher gering"

"Die Frage ist durchaus berechtigt", sagt die auf Medizinrecht spezialisierte Rechtsanwältin Viktoria von Radetzky, die für die Kanzlei Hast-Maus-von Radetzky im Team mit ihren Kollegen sowohl die Seite von Ärzten und Pflegeheimen als auch jene der Patienten vertritt.

"Allgemein lässt sich jedoch feststellen, dass die rechtlichen Risiken eher gering sind." Immerhin bleibe ein Kernbereich, der zu dokumentieren ist, bestehen.

Die angestoßene Vereinfachung beziehe sich lediglich auf den Bereich der Grundpflege, gibt sie zu bedenken. "Es handelt sich bei der Regelung um den sogenannten "Immer-so-Beweis", der in anderen medizinischen Bereichen, beispielsweise in der Arztdokumentation, für Routinemaßnahmen bereits üblich ist."

Im Falle eines heißen Sommers könnte die abweichende Situation, die eine Dokumentation wiederum erfordert, auch von außen kommen. "Um sich abzusichern, sollte die Pflegekraft solche Momente, die eben von der Norm abweichen, weiterhin dokumentieren", sagt von Radetzky.

"Wenn der Nachtdienst für den Tagdienst aufschreibt, wie ein offenes Druckgeschwür versorgt wurde, dann ist das Teil guter Pflege und keine unnötige Bürokratie", betont auch Gernot Kiefer, Vorstand des GKV-Spitzenverbandes, in einer Mitteilung.

Nichtsdestotrotz: In vielen Pflegeheimen herrscht Unsicherheit. "Um anscheinenden haftungsrechtlichen Problemen vorzubeugen, wird viel mehr dokumentiert als notwendig ist", sagte der Pflegewissenschaftler Professor Johann Behrens von der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg jüngst in einem Interview mit der "Mitteldeutschen Zeitung".

Zu diesem Schluss kam sein Forschungsteam nach der Analyse von 4000 nationalen und internationalen Literaturstellen, die sich mit der Pflegedokumentation beschäftigen.

Der Pflegebevollmächtigte Karl-Josef Laumann (CDU) betonte hingegen bereits, dass für die Pflegeeinrichtungen - trotz weniger Dokumentation - Rechtssicherheit besteht.

Und auch Peter Bechtel, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands Pflegemanagement, gibt Entwarnung: Hinsichtlich der Rechtssicherheit für die Pflegenden sehe er aktuell kein Risiko, sagte er im Interview mit der "Ärzte Zeitung".

"Ich halte das Modell für einen sehr guten Entwurf, der auch in Fragen der Rechtssicherheit keine Probleme mit sich bringt."

Auch viele Verbände sehen das Strukturmodell positiv. "Der Deutsche Pflegerat unterstützt und begleitet die begonnene Implementierung der neuen Dokumentation", teilte Franz Wagner, Vize-Präsident des Deutschen Pflegerats (DPR), mit.

"Das daraus gewonnene neue Selbstverständnis der professionell Pflegenden wird zu einem Motivationsschub für die Pflege führen", ergänzte DPR-Präsidiumsmitglied Thomas Meißner. Qualitätseinbußen durch die neue Dokumentation erwarte er nicht. "Die sich aus der neuen Art der Pflegedokumentation ergebende Qualität der Pflege wird hoch bleiben."

Die Medizinischen Dienste der Krankenkassen sehen in der Verschlankung ebenfalls kein Problem.

"Die vereinfachte Pflegedokumentation ist eine ausreichende Grundlage für die Durchführung der Qualitätsprüfung. Mehr Dokumentation brauchen die Prüfer nicht", sagte Dr. Peter Pick, Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS).

Qualität statt Quantität

Ohnehin sei es eine Frage der Argumentation, inwiefern die bisherige Dokumentation im Falle eines Rechtstreits die Pflegenden auch wirklich absichere, gibt Bechtel zu bedenken.

"Wir könnten ja auch den Fall konstruieren, dass die eingetragenen Mengen für die Flüssigkeitszufuhr fingiert wurden. In diesem Fall könnte letztlich auch niemand nachweisen, ob die eingetragenen Zahlen der Realität entsprechen - was nicht nur ein explizites Problem der Pflege-, sondern jeglicher Dokumentation ist."

Auch Fachanwältin Viktoria von Radetzky weiß, dass mangelnde Dokumentation bereits heute ein Problem sein kann. "Immerhin kann in der Dokumentation auch einfach etwas weggelassen werden. Das könnte für den Pflegenden ja wiederum eine - wenn auch so nicht gewollte - Absicherung sein", so die Rechtsanwältin.

Das Strukturmodell kann im Falle eines Rechtsstreits ihrer Meinung nach eher dem Patienten schaden als dem Pflegenden: "Die Beweislast liegt schon heute eher beim Patienten. Wird von einem Fehler ausgegangen, so muss der Patient dies nachweisen."

Die Rechtssicherheit sieht so auch der Pflegewissenschaftler Behrens gegeben. "In Haftungsprozessen kann man sich auch ganz gut wehren und die Wahrheit beweisen, wenn nicht alles schriftlich festgehalten wurde."

"Es kommt nicht darauf an, wie viel dokumentiert wird", fasst von Radetzky zusammen, "sondern was - und wie genau."

Um das zu vermitteln, wird das Projektbüro nun einheitliches Schulungsmaterial erstellen und ab dem zweiten Quartal von den Trägerverbänden benannte Multiplikatoren in der Anwendung des Strukturmodells schulen - auch in Fragen der Rechtssicherheit.

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