U-Vorsorgen

In der Not zwecklos

Verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen für Kinder haben in einigen Bundesländern die Teilnahmequote steigen lassen. Doch ist das Kindeswohl gefährdet, erweisen sich die U-Vorsorgen als stumpfes Schwert.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:

STUTTGART. In Baden-Württemberg hat die Landesregierung eine Zwischenbilanz des landeseigenen Kinderschutzgesetzes gezogen, das seit März 2009 in Kraft ist.

Aus der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen-Fraktion im Landtag ist ein Trend ablesbar - im Südwesten, aber auch in anderen Regionen: Dort, wo Eltern durch verbindliche Einladungs- und Erinnerungssysteme zur Früherkennung bei ihren Kindern ermuntert werden, sind seitdem "etwas höhere Teilnahmequoten" erzielt worden, berichtet das Landessozialministerium.

Die Regierung hat dazu Daten aus den Fachressorts anderer Länder angefordert.

Beispiel AOK Baden-Württemberg: Dort ist die Teilnahmerate für die U5 von 91 Prozent (2009) auf 97,2 Prozent (2011) gestiegen. Auch bei der U9 zeigt sich im gleichen Zeitraum ein Anstieg um knapp neun Prozentpunkte auf 87 Prozent.

Parallel dazu ist bei Einschulungsuntersuchungen der Anteil der Kinder, deren Eltern kein Untersuchungsheft vorgelegt haben, gesunken, von 6,2 (2008/2009) auf 5,5 Prozent (2010/2011).

Ungeachtet dieses positiven Trends gibt es keine stichhaltigen Hinweise, dass ein aufwendiges Einladungs- und Erinnerungssystem auch den Kinderschutz fördert, berichtet das Landessozialministerium:

In Rheinland-Pfalz sind den Gesundheitsämtern im Jahr 2009 in 26.453 Fällen gemeldet worden, dass Kinder nicht zu den U-Vorsorgen vorgestellt worden sind.

Nur in sechs Fällen sei "ein möglicherweise bestehender Hilfebedarf beziehungsweise Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung neu aufgedeckt" worden, heißt es in der Regierungsantwort. Das entspricht einer Quote von 0,0002 Prozent. Die gefährdeten Kinder seien dem Jugendamt ohnehin schon bekannt gewesen.

In Hessen haben die Jugendämter zwischen Juli 2008 und Juni 2009 2245 Meldungen vom Hessischen Kindervorsorgezentrum erhalten. In sechs Familien (0,27 Prozent), die den Behörden nicht bekannt waren, war das Kindeswohl gefährdet.

In Schleswig-Holstein ist im Zeitraum zwischen April 2008 und April 2009 in insgesamt 353 Fällen das Jugendamt aktiv geworden, weil Eltern trotz mehrmaliger Aufforderung ihre Kinder nicht zur Früherkennung vorgestellt haben.

Fünfmal seien "weitergehende Maßnahmen" nötig gewesen. Teilweise erhielten die betroffenen Familien bereits Hilfe zur Erziehung.

Ein statistisch valider, bundesweiter Vergleich der Effektivität der verbindlichen Einladungssysteme ist nicht möglich - auch weil sich ein föderaler Flickenteppich von Regelungen etabliert hat.

So existiert in Sachsen-Anhalt gar kein verbindliches Einladewesen. Stattdessen soll das Zentrum "Frühe Hilfen für Familien" in Kooperation mit den Kassen dafür sorgen, dass die Teilnahmequote steigt.

In Niedersachsen wird direkt das zuständige Jugendamt unterrichtet, wenn auch Erinnerungsschreiben an die Eltern nicht gefruchtet haben.

In Berlin dagegen wird zunächst das Gesundheitsamt informiert. Das Jugendamt wird nur dann eingeschaltet, wenn es tatsächliche Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung gibt.

Ganz andere Anreize setzt Bayern: Landeserziehungsgeld erhalten Eltern nur, wenn die Teilnahme an der U6 und U7 nachgewiesen wird. Seit Anfang 2012 ist zudem das neue Bundeskinderschutzgesetz in Kraft. Darin wurde auch geregelt, wie bei Gefährdungen des Kindeswohls die Informationsweitergabe durch Ärzte und Lehrer zu handhaben ist.

Lesen Sie dazu auch: Was Kevin und Jessica hilft

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Kommentare
Anne C. Leber 01.02.201314:11 Uhr

Leserzuschrift von Lisa Degener

Was hatte man erwartet von der Meldepflicht für Kinder-Vorsorgeuntersuchungen? Dass man jede Menge Kevins und Jessicas findet und von ihrem schwerem Schicksal der Kindesvernachlässigung und möglichen Gewalterfahrungen befreit?
Von 26453 in Rheinland-Pfalz gemeldeten Fällen einer Nichtteilnahme an Vorsorgeuntersuchungen sei „nur in sechs Fällen … ein möglicherweise bestehender Hilfebedarf beziehungsweise Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung neu (Hervorhebung durch mich) aufgedeckt worden“. Wir erinnern uns: Kevin in Bremen war den unterschiedlichsten involvierten Behörden wohlbekannt – und dennoch konnte man seinen Tod nicht verhindern. Ein Problem in der „Akte Kevin“ war die mangelnde Kommunikation der verschiedenen Professionen untereinander.
Und genau da setzt – unter anderem – die Meldepflicht für die U-Untersuchungen an: wir kommunizieren - und können das gegenüber den Eltern, die das leider nicht immer wohlwollend betrachten, mit Hinweis auf ein Gesetz auch deutlich einfacher vertreten.
Die „schweren“ Fälle der Kindeswohlgefährdung sind meistens den Behörden bekannt. In diesen Fällen ist die Meldepflicht für Kindervorsorgeuntersuchungen nur ein kleiner Baustein, der der besseren Vernetzung medizinischer/sozialer Institutionen zum Schutz der betroffenen Kinder nutzt.
Es gibt darüber hinaus viele andere Fälle von „vergessenen“ Kindervorsorgeuntersuchungen, die nicht solch dramatische, aber sehr wohl verstecktere Formen der Kindeswohlgefährdung anzeigen: die Kinder, die bereits in den ersten Lebensjahren ein deutliches Übergewicht entwickeln, die keiner sportlichen Freizeitaktivität nachgehen, in deren Kinderzimmer elektronische Medien unkritisch Einzug halten, die Sprachentwicklungsstörungen zeigen, aber in den Betreuungseinrichtungen so unregelmäßig erscheinen, dass dort keine Förderung erfolgen kann.
Dass diese Kinder jetzt regelmäßiger zu den Vorsorgeuntersuchungen erscheinen, ist beileibe kein Allheilmittel gegen die oben angesprochenen Probleme. Auch diese Erwartung an die Meldepflicht wäre zu hoch gesteckt. Aber die Meldepflicht hilft uns, diese Kinder aus dem grauen Nebel des Erahnens von Vernachlässigung in den Fokus von medizinischen und pädagogischen Institutionen zu bringen - und erst dann kann man etwas bewegen.
Ein Anstieg der Vorsorgeuntersuchungen um sechs bis neun Prozent (AOK Baden-Württemberg) ist in meinen Augen ein Erfolg, der keinem Kind schadet und insbesondere den Kindern zugutekommt, die Förderung benötigen, sie aber nicht erhalten.
Wie teuer dieses System ist, weiß ich nicht. Aufwändig ist es für die Praxen nicht, das kann ich zumindest für das in NRW praktizierte System sagen. Für sehr bürokratisch erachte ich es auch nicht: die Wege sind einfach und vorhersehbar.
Dass es in Deutschland nicht viele Kinder gibt, denen es gesundheitlich nicht gut geht - nämlich 20 Prozent laut KIGGS - und dass von diesen 20 Prozent auch nur wenige kindeswohlgefährdet sind, ist ein Glück.
Als Hausärztin, die viele Kindervorsorgeuntersuchungen durchführt, wünsche ich mir, dass das System der Meldepflicht beibehalten wird. Meine Arbeit bzw. die meines Teams dafür leiste ich gern, um den glücklicherweise wenigen Kindern, die durch unser sozialmedizinisches Netz schlüpfen, die ihnen zustehende Förderung zukommen zu lassen.
Lisa Degener
Allgemeinärztin, Altenberge

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