Kinder- und Jugendmediziner starten Petition
Kinder im System nicht vernachlässigen!
Zu wenig Pflegende, zu wenig Erlöse, keine passenden Arzneimittel – bei der medizinischen Versorgung von Kindern hakt es oft, klagen Klinikärzte. Um auf die vielen Missstände aufmerksam zu machen, hat die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin eine Petition gestartet.
Veröffentlicht:Hannover. Kein schönes Fazit der Arbeit mit kranken Kindern: „Wir buckeln uns ab.“ So formuliert Dr. Michael Sasse, Leiter der Kinderintensivstation an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), wie es auf seiner Station den Pflegenden, den Ärztinnen und Ärzten ergeht. Tatsächlich kämpft die Kindermedizin insgesamt mit erheblichen Problemen: Mangel an Pflegenden und deshalb leere Betten, während die Patienten Schlange stehen. Zu knappe DRG. Keine passenden Medikamente. Glaubt man den Klagen aus Kinderkrankenhäusern, so hat die Kindermedizin ernste Sorgen.
Klar, dass die kleinen Patienten unter den Zuständen leiden. Wegen der angespannten Situation in der Versorgung kranker Kinder hat die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) im September 2019 eine Petition beim Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages eingereicht: Der Bundestag möge die Benachteiligung von Kindern in der medizinischen Versorgung beenden und dafür sorgen, dass sie „den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention gerecht wird“.
Nach Ansicht der Petenten werden in deutschen Kinderkliniken und Kinder-Intensivstationen Kinderrechte gebrochen. In der Tat spricht die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen seit 30 Jahren allen Kindern Schutz zu, sowie Förderung und Beteiligung und das Recht auf Meinungs- und Religionsfreiheit, auf Bildung und: das Recht auf Gesundheit.
Bis zu acht Vollzeitstellen unbesetzt
Dabei tut Sasse einiges, um die Versorgung seiner Patienten zu gewährleisten. Er umgarnt und fördert die Pflegekräfte, so gut es irgend geht, berichtet er. Denn genug spezialisierte Pflegende sind das Rückgrat der Versorgung der schwer kranken Kinder. „Wir veranstalten Anti-Burn-out-Seminare“, zählt Sasse auf, „wir machen alle zwei Wochen Supervision, wir bieten Kurse, um die Resilienz der Pflegenden zu erhöhen, wir stecken jedes Jahr an die 100.000 Euro in die Fortbildung der Pflegenden. Wir machen zusammen Sport, gehen zusammen ins Kino – ehrlich gesagt: Ich glaube, so eine Betreuung gibt es kein zweites Mal in Deutschland.“
Und trotzdem kann der Chef der Intensivstation 25 Prozent der Bettenkapazität seiner Station nicht nutzen, weil ihm die Pflegenden fehlen. Fünf bis acht Vollzeitstellen der Kinderintensivstation sind nicht besetzt. „Darum stehen Betten leer, wie vielerorts. Wir können von unseren 18 Betten je nach Personalstand zwei bis sechs nicht belegen“, sagt Sasse. „Es gibt Kliniken, da sind sogar nur noch 40 Prozent der Betten offen.“
Die Folge: Patienten müssen abgewiesen werden.
Ebenso gibt es Probleme auf Normal-Kinderstationen oder in Kinderkrankenhäusern: So braucht eine Kinderklinik zum Beispiel fünf Bettengrößen: von Inkubatoren für 500 Gramm leichte Frühchen bis hin zu überlangen Betten für 110 Kilo schwere Teenager. „Die viel größeren logistischen Aufgaben werden nicht refinanziert“, so Thomas Beushausen, eben in den Ruhestand verabschiedeter Direktor des Hannoveraner Kinderkrankenhauses auf der Bult.
Auch andere Prozeduren sind bei Kindern aufwendiger und teurer und von den DRG nicht gedeckt. Zum Beispiel Kernspin-Untersuchungen. Weil Kinder nicht so lange ruhig liegen können, brauchen sie hier eine Narkose. Das dauert und kostet. Blut abzunehmen, braucht bei Kindern viel mehr Zeit als bei Erwachsenen. Auch die Mitbetreuung der Eltern verursacht zusätzliche Kosten. Viel der operativen Medizin an Kindern wird schlecht vergütet.
Besser alles in einem Aufwasch
Oft empfehle es sich bei Kindern, die mehrere Op brauchen, „alle in einem Aufwasch zu machen, damit nur eine Narkose nötig wird“, berichtet Professor Christoph Eich, Leiter der Anästhesie und Kinderintensivmedizin im Kinderkrankenhaus auf der Bult. „Aber die Kassen zahlen nur einen Eingriff und die anderen machen wir dann umsonst. Das heißt, wir machen Miese und das macht uns enorm Druck.“ „Kinder werden in unserem System komplett vernachlässigt, und zwar an jeder Stelle!“, resümiert Beushausen. Ihnen fehle die Lobby. „Denn mit Kindermedizin kann man an keiner Stelle Geld verdienen“, sagt er. Im Gegenteil: Kinder kosten, und zwar mehr als die Versorgung Erwachsener. „Die Erlöse aus den DRG reichen vorn und hinten nicht, und schon gar nicht, wenn Kinder versorgt werden“, so Beushausen.
Nur acht Prozent der Gesundheitskosten werdend für die Versorgung von Kindern ausgegeben. Wollte man diesen Anteil um zehn Prozent aufstocken, so bedeutete das für das Gesamtsystem nur ein Prozent Mehrausgaben, „und das wäre ein riesiger Fortschritt.“ Vor allem für die reinen Kinderkrankenhäuser, die ausschließlich die teure Versorgung von Kindern erbringen.
Viele Behelfslösungen
Im Kinderkrankenhaus auf der Bult behilft man sich mit Fundraising, um die Kosten zu decken, berichtet Beushausen. Der Oberarzt Sasse von der MHH-Kinderintensivstation hat ein Netzwerk gesponnen zwischen den Kinderintensivstationen, um möglichst keine Kinder abweisen zu müssen. Wenn man in Hannover ein Kind aus einer anderen Station nicht aufnehmen kann, dann schickt Sasse der anderen Intensivstation ein Team zur Unterstützung und sucht zugleich für den Patienten einen anderen Intensivplatz. Das Ärzteteam fährt oder fliegt dann mit den Patienten in jene aufnehmende Station. Auf diese Weise ist schon ein Patient aus Witten in NRW in Marburg gelandet, berichtet Sasse.
Auch das Kinderkrankenhaus auf der Bult arbeitet zusammen mit den Häusern in Neustadt, Hameln oder Celle, um Kinder im Zweifel verlegen und nicht abweisen zu müssen.
Aber das sind Behelfslösungen, erklären Sasse und Beushausen unisono. Letztlich braucht es mehr Geld - für die Pflege und für die Versorgung. Sasse meint: „Die Pflegenden brauchen mindestens 30 Prozent mehr Gehalt. Das ist für mich das einzige taugliche Mittel.“
Arbeitsbedingungen verbessern
Beushausen betont zudem die Arbeitsbedingungen: „Junge Pflegende wollen nicht in einem IT-Arbeitsumfeld arbeiten, das anachronistisch ist, oder in einem Umfeld, das baulich nicht in Ordnung ist. Da fehlen die Investitionen!“
Bis heute wurde die Petition der DAKJ mit der Nummer 98930 von 60.208 Menschen unterstützt. Hiervon erfolgten 17.474 Mitzeichnungen über das Onlineportal des Petitionsausschusses und 42.734 durch Offline-Mitzeichner. Damit ist das notwendige Quorum von 50.000 Unterschriften erreicht. In der Begründung der Petition heißt es: „Kinder haben ein Recht darauf, genauso gut gepflegt zu werden wie Erwachsene!“
Zur Petition der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin