Künftige Bundesregierung
Koalitionsvertrag: Das wollen Union und SPD im Gesundheitswesen ändern
Die neue Bundesregierung steht: Union und SPD haben ihren Koalitionsvertrag vorgestellt. Darin enthalten: eine Reform des Gesundheitswesens. Wir geben einen Überblick.
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Es ist vollbracht: Die Koalitionsverhandlungen sind abgeschlossen. Geeinigt haben sich CSU-Chef Markus Söder (v.l.), CDU-Vorsitzender Friedrich Merz sowie die SPD-Spitzen Lars Klingbeil und Saskia Esken.
© Michael Kappeler/picture alliance/dpa
CDU, CSU und SPD werden die nächste Bundesregierung bilden. Die Spitzen der drei Parteien haben sich am Mittwoch auf einen gemeinsamen Koalitionsvertrag verständigt. Dieser sieht auch große Reformen im Gesundheitswesen vor.
Etliche Punkte, die schon im Ergebnispapier der Arbeitsgruppe Gesundheit und Pflege niedergeschrieben waren, finden sich auch im Koalitionsvertrag. An einigen Stellen wurde aber kräftig geschraubt.
Kommentar zum Koalitionsvertrag
Kein mutiges Signal zum Aufbruch in Richtung eines besseren Gesundheitssystems
Wir geben einen Überblick, wie die Pläne von Schwarz-Rot für den Bereich Gesundheit und Pflege aussehen.
Ambulante Versorgung
Union und SPD haben im Koalitionsvertrag vereinbart, das Honorarsystem der niedergelassenen Ärzte durch Jahrespauschalen zu ergänzen. Ziel ist, die Anzahl der „nicht bedarfsgerechten“ Arzt-PatientInnen-Kontakte zu verringern.
Neu ist auch die Vergütung von Praxis-Patienten-Kontakten, was flexiblere Vergütung ermöglichen und die Gesundheitsberufe aufwerten soll.
Zudem wollen die Koalitionäre die Weiterbildung stärken. In den Praxen von Allgemeinmedizinern sollen künftig zwei Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung tätig sein können. Bisher gilt die Regel ein bis zwei Ärzte. Zudem soll es in den Kinder- und Jugendarztpraxen mehr Weiterbildungsstellen geben.
Primärarztsystem angestrebt
Gleichzeitig will Schwarz-Rot die Patienten künftig stärker steuern. Dafür setzen die Koalitionäre auf ein verbindliches Primärarztsystem bei freier Arztwahl von Haus- und Kinderärzten sowohl in der HzV als auch im Kollektivvertrag. Ausnahmen vom Primärarztsystem sollen für die Augenheilkunde und die Gynäkologie gelten.
Menschen mit chronischen Erkrankungen sollen auch von Gebietsärztinnen und -ärzten durch das Gesundheitssystem gelotst werden können.
Um die Sicherstellung der ambulanten Versorgung zu gewährleisten, kündigen die Koalitionäre an, den Ländern eine zusätzliche Stimme in den Zulassungsausschüssen zu ermöglichen. Das solle eine kleinteiligere Bedarfsplanung ermöglichen.
Abschläge in überversorgten Gebieten
Gleichzeitig sollen Facharztpraxen in unterversorgten und drohend unterversorgten Gebieten unter dem Budgetdeckel hervorgeholt werden. Überhaupt sollen Ärzte in diesen Regionen über Zuschläge bessere Erlöse erzielen können. Dort sollen auch „universitäre Lehrpraxen“ einfacher installiert werden können.
In überversorgten Gebieten dagegen will die Koalition mit Abschlägen arbeiten.
Einen sehr konkreten Ansatz verfolgen die Koalitionäre bei der telefonischen Krankschreibung. Missbrauch soll künftig ausgeschlossen sein. Dies will man unter anderem durch den Ausschluss von privaten Onlineplattformen erreichen. Zurück zur Übersicht.
GOÄ-Novelle
Mit der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ neu) will sich die Koalition offenbar nicht befassen. Sie findet sich im Koalitionsvertrag nicht. Zurück zur Übersicht.
Fachkräftegewinnung
Gerade im Gesundheitswesen ist es wichtig, Fachkräfte aus Nicht-EU-Ländern ( so genannte Drittstaaten) zu gewinnen. Das ist heute wegen bürokratischer Hürden aber oft schwer oder es scheitert ganz. Das wollen Union und SPD ändern.
„Es gilt, bürokratische Hürden einzureißen, etwa durch eine konsequente Digitalisierung sowie die Zentralisierung der Prozesse und eine beschleunigte Anerkennung der Berufsqualifikationen. Dafür schaffen wir, unter Mitwirkung der Bundesagentur für Arbeit, eine digitale Agentur für Fachkräfteeinwanderung – „Work-and-stay-Agentur“ – mit einer zentralen IT-Plattform als einheitliche Ansprechpartnerin für ausländische Fachkräfte.“
Die Agentur bündelt und beschleunigt, so der Vertrag, unter anderem alle Prozesse der Erwerbsmigration und der Anerkennung von Berufs- und Studienabschlüssen und verzahnt diese mit den Strukturen in den Ländern: „Wir setzen uns für einheitliche Anerkennungsverfahren innerhalb von acht Wochen ein. Wir wollen, dass Absolventinnen und Absolventen aus Drittstaaten, die in Deutschland eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen haben, bei uns bleiben und hier arbeiten.“ Zurück zur Übersicht.
Bürokratieabbau
Im Koalitionsvertrag betonen Union und SPD, dass sie die Bürokratie im Gesundheitswesen abbauen wollen.
„Unser Gesundheitssystem lebt von hochqualifizierten Fachkräften, die täglich Verantwortung für Menschen tragen. Wir verringern Dokumentationspflichten und Kontrolldichten durch ein Bürokratieentlastungsgesetz im Gesundheitswesen massiv, etablieren eine Vertrauenskultur und stärken die Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Professionen, statt sie mit Bürokratie aus Gesetzgebung und Selbstverwaltung zu lähmen“, heißt es im Vertrag.
Konkret folgt daraus: Eine Bagatellgrenze von 300 Euro bei der Regressprüfung niedergelassener Ärztinnen und Ärzte. Auch verpflichtet die Koalition in spe die Krankenkassen, „vollständig gemeinsame Vertrags- und Verwaltungsprozesse zu entwickeln.“ Zurück zur Übersicht.
Klinikreform
Im Vertrag steht, dass Schwarz-Rot bei der Krankenhausreform auf den Vorarbeiten von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach aufbauen will.
Zugleich kommt der Vertrag der Kritik der Länder an Lauterbachs Klinikreform weit entgegen: „ Wir ermöglichen den Ländern zur Sicherstellung der Grund- (Innere, Chirurgie, Gynäkologie und Geburtshilfe) und Notfallversorgung der Menschen besonders im ländlichen Raum Ausnahmen und erweiterte Kooperationen.“
Hatte Lauterbach vorgesehen, dass die Gesetzliche Krankenversicherung jährlich 2,5 Milliarden Euro für den Klinik-Transformationsfonds bezahlen muss, heißt es nun: „Den bisher für die GKV vorgesehenen Anteil für den Transformationsfonds für Krankenhäuser finanzieren wir aus dem Sondervermögen Infrastruktur.“
Die Summe von 2,5 Milliarden Euro wird also vom Bund bezahlt, weitere 2,5 Milliarden Euro jährlich sollen von den Ländern bezahlt werden.
Leistungsgruppen, wie sie in NRW gelten
Wie vom Bundesrat zuletzt im November 2024 angemahnt, erklärt nun der Vertrag, dass die Zuweisung der Leistungsgruppen zum 01.01.2027 auf Basis der 60 Leistungsgruppen erfolgt, wie sie in Nordrhein-Westfalen gelten: „Dort, wo es medizinisch sinnvoll ist, werden die Leistungsgruppen in Bezug auf ihre Leistungs- und/oder Qualitätsvorgaben verändert. Dies gilt in gleicher Weise für die Anrechenbarkeit der Ärztinnen und Ärzte pro Leistungsgruppe.“
Die Konvergenzphase zur Einführung der neuen Klinikvergütung wird von zwei auf drei Jahre verlängert: „Das Jahr 2027 wird dabei für alle Krankenhäuser erlösneutral ausgestaltet, um die neuen Vergütungsregeln und die Wirkung der Vorhaltefinanzierung transparent aufzuzeigen und -gegebenenfalls nachzujustieren. Anschließend führen wir die Vorhaltevergütung in zwei Schritten ein.“
In den Bundesländern, die bis zum 31.12.2024 die Leistungsgruppen zugewiesen haben, bleiben diese rechtswirksam und werden als Basis für die Vergütung ab 2026 genutzt. Zurück zur Übersicht.
Praktisches Jahr
Mit Blick auf die Lage von Medizinstudierenden heißt es im Vertrag: „Wir wollen eine Vergütungsstruktur im Praktischen Jahr (PJ) modernisieren, die mindestens dem BAföG-Satz entspricht 3602 und wollen eine gerechte und einheitliche Fehlzeitenregelung schaffen.“ Zurück zur Übersicht.
MVZ-Regulation
„Wir erlassen ein Gesetz zur Regulierung investorenbetriebener Medizinischer Versorgungszentren“ – so hatte es die Arbeitsgruppe von Union und SPD kürzlich bereits angekündigt. Im heute veröffentlichten Koalitionsvertrag wird der Passus dahingehend konkretisiert, dass „Transparenz über die Eigentümerstruktur sowie die systemgerechte Verwendung der Beitragsmittel sicherstellt“ werden solle.
Der erste Teil dieser Ergänzung entspricht der vielfach erhobenen Forderung nach einem MVZ-Register. Der zweite Teil kann dahingehend verstanden werden, dass die Kontrollpflichten der KVen hinsichtlich etwaiger Rosinenpickerei intensiviert werden.
Im Vergleich zu den Regulationsforderungen, wie sie etwa aus KV-Kreisen oder teilweise auch von den Bundesländern erhoben wurden und werden, zeichnet sich damit eine gewisse Entspannung für MVZ im Besitz institutioneller Investoren ab. Susanne Müller, Geschäftsführerin des Bundesverbands Medizinischer Versorgungszentren (BMVZ), hat gegen diese Programmatik eines „MVZ-Regulierungsgesetzes“ jedenfalls keine Einwände.
„Die Herstellung von Strukturtransparenz bei MVZ, aber auch darüber hinaus, ist dem BMVZ seit Langem eine großes Anliegen. Es gibt auch kein MVZ, dass damit ein Problem hat – vorausgesetzt es wird nicht eine überbordende neue Transparenzbürokratie geschaffen“, wie Müller in einer ersten Stellungnahme am Mittwoch betont. „Praktikable Vorschläge, dies zu erreichen, liegen vor. Das Vorhaben der Koalition unterstützen wir daher gerne.“ Zurück zur Übersicht.
Corona
„Wir ergreifen weitere Maßnahmen, um die gesundheitliche Situation von Betroffenen seltener Erkrankungen, zum Beispiel durch Ausbau und Stärkung von digital vernetzten Zentren zu verbessern. An myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom, Long- und PostCOVID und PostVac erkrankte Menschen brauchen weiter unsere Unterstützung.“
Auch sagen Union und SPD zu, dass sie die Corona-Pandemie „umfassend im Rahmen einer Enquete-Kommission aufarbeiten, insbesondere um daraus Lehren für zukünftige pandemische Ereignisse abzuleiten.“ Zurück zur Übersicht.
Cannabis
Die Union hatte im Wahlkampf verlangt, die Teil-Legalisierung von Cannabis zurückzunehmen, die die Ampel Regierung eingeführt hatte. Dazu heißt es im Vertrag jetzt aber nur: „Im Herbst 2025 führen wir eine ergebnisoffene Evaluierung des Gesetzes zur Legalisierung von 2859 Cannabis durch.“ Zurück zur Übersicht.
Pflegereform
Die soziale Pflegeversicherung, vor genau 30 Jahren eingeführt, steckt tief im Minus – auch strukturell gilt der Sozialversicherungszweig als angestaubt. Union und SPD wollen die Probleme mit einer großen Pflegereform angehen.
Inhalte der Reform soll eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf Ministerebene unter Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände erarbeiten. Diese soll ihre Ergebnisse noch in diesem Jahr vorlegen. Die Selbstverwaltung bleibt also zunächst außen vor.
Prüfen soll die Kommission unter anderem die Frage, wo die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen wie die Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige und die Ausbildungsumlage in der Altenpflege verortet sein sollen.
Bislang stemmen die Pflegekassen beide Aufgaben – allein die Rentenbeiträge für Pflege-Angehörige schlagen mit jährlich über drei Milliarden Euro zu Buche.
Pflegende An- und Zugehörige sollen gestärkt werden
Auch soll die Kommission ausloten, wie sich die steigenden pflegebedingte Eigenanteile der rund 750.000 Altenheimbewohner drosseln lassen. Konkreter wird der Vertragsentwurf nicht – Dissens hatte es zwischen Union und SPD zuletzt bezüglich des sogenannten Sockel-Spitze-Tauschs gegeben.
Zudem wollen Union und SPD die rund fünf Millionen pflegenden An- und Zugehörigen stärken und mehr Angeboten für pflegerische Akutsituationen schaffen. Die sektorübergreifende Pflegeversorgung und Übernahme von Modellprojekten wie „stambulant“ sollen in die Regelversorgung überführt werden. Zurück zur Übersicht.
Pflegeberufe
Gestärkt werden soll auch die professionelle Pflege. Kurzfristig sollen hierzu Gesetze zur Pflegekompetenz, Pflegeassistenz und zur Einführung einer „Advanced Practice Nurse“ auf den Weg gebracht werden. Im Papier der Arbeitsgruppe Gesundheit und Pflege war noch die Rede von binnen 100 Tagen. Zurück zur Übersicht.
(bwa, af, hom, cw, ths)