Leitartikel

Lauterbachs Paxlovid®-Tweet – ein Bärendienst für die evidenzbasierte Medizin

Karl Lauterbach war einst großer Verfechter der evidenzbasierten Medizin. Jetzt vergeht er sich an ihr. Damit ist der Bundesgesundheitsminister in unguter Gesellschaft.

Denis NößlerEin Leitartikel von Denis Nößler Veröffentlicht:
Den wievielten Booster hätten Sie denn gerne? Manche Politiker drängeln.

Den wievielten Booster hätten Sie denn gerne? Manche Politiker drängeln.

© Fabian Sommer/picture alliance

Jeder hat das Recht, Arzneimittel zu schlucken. Und jeder hat das Recht, sich die x-te Auffrischung einer Schutzimpfung zu verabreichen, bzw. – sofern er oder sie helfende Hände findet – verabreichen zu lassen. Das steht zwar so explizit weder im Grund- noch im Arzneimittelgesetz. Wenigstens aber ist es vom „Recht auf freie Entfaltung“ in unserer Gesellschaft und von der Verfassung geschützt – sofern man „nicht die Rechte anderer verletzt“.

Deswegen kann es auch für einen Bundesgesundheitsminister samt ärztlicher Approbation nicht verboten sein, nach der eigenen SARS-CoV-2-Infektion Paxlovid® einzunehmen oder längst die zweite Booster-Impfung im Arm zu haben. Sofern er es denn privat machte. Tat er aber nicht.

Auf Twitter hat der 59-jährige Karl Lauterbach die Epikrise seiner COVID-19 geteilt. So weit, so persönlich. Nur ist er Person der Zeitgeschichte, für sehr viele Menschen seit Pandemiebeginn eine wichtige Bezugsperson. Mit seiner Million an Followern bräuchte er nicht einmal Markus Lanz, um Öffentlichkeit herzustellen.

Öffentliche Therapieempfehlung

Und so wird es zum Problem, wenn ein exponierter und in weiten Teilen der Bevölkerung so angesehener Dr. med. anhand der eigenen Erkrankung quasi eine Therapieempfehlung gibt („Zur Vermeidung von Komplikationen nehme ich Paxlovid.“). Wozu brauchen wir noch die Arzneimittelbehörden, die nach möglichst umfassenden klinischen Prüfungen Indikationen vorgeben (hier: „für Erwachsene mit einem erhöhten Risiko, eine schwere COVID-19 zu entwickeln“)?

Wozu gibt es Fachgesellschaften wie die DGIIN, die DGI, die DGP, die DIVI oder Expertengremien wie COVRIIN oder die STAKOB, die sich in tage- und wochenlanger, meist ehrenamtlicher Arbeit die Mühe machen, die vorliegende Evidenz zu sichten und Therapieempfehlungen zu entwickeln? Wozu, wenn es eh jeder macht, wie er will?!

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Es ist schon richtig: Die Off-label-Einnahme einer Arznei ist im Zweifel Privatsache. Und ja, zur EbM gehören neben Evidenz auch die Erfahrung der Ärztin, des Arztes und die Bedürfnisse derjenigen, die zu behandeln wären. Nur hier ist es öffentlichkeitswirksam feinste eminenzbasierte Medizin, fast schon wie von früheren „Professoren“ im Frühstücksfernsehen.

Manche werden sich denken: Ach, das will ich auch, wenn der Lauterbach das nimmt. Gesundheitsaufklärung aber ist komplexer als ein Tweet. Mit guten Gründen setzt das Heilmittelwerbegesetz klare Grenzen für Aussagen etwa über Therapien.

Renaissance der „Halbgötter in Weiß“?

Dasselbe mit den STIKO-Empfehlungen: Lauterbach treibt die STIKO vor sich her, indem er sie medial wirksam ermahnt, doch bitteschön „Impfempfehlungen für alle Altersgruppen“ zu publizieren. Heißt das, die jetzigen Empfehlungen sind falsch? Heißt das, die STIKO würdigt die vorliegende Evidenz nicht? Heißt das, das Gremium arbeitet insuffizient?

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Wie auch immer solche Aussagen gemeint waren: Hängen bleiben dürfte bei nicht wenigen Menschen, darunter auch Fachleuten, dass evidenzbasierten Empfehlungen nur bedingt zu trauen ist, dass die Methoden der EbM zu langwierig und – wenigstens in einer Pandemie – unprofessionell sind. Mit all solchen Sticheleien erweisen nicht nur Bundesminister den Errungenschaften der evidenzbasierten Medizin, für die David Sackett und Kolleginnen und Kollegen jahrzehntelang gekämpft haben, einen Bärendienst.

Wenn am Ende tatsächlich die Rückkehr zur Einzelmeinung der „Halbgötter in Weiß“ steht, spätestens dann dürfte sich Sackett im Grabe umdrehen.

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Kommentare
Roswitha Poppel 24.08.202215:07 Uhr

Nun ja, Biden hat es ja wohl auch geholfen. Ich finde es sehr ehrlich von Herrn Lauterbach. Damit hat er mit dem Bürger auf Augenhöhe kommuniziert, ihn ernst genommen und ihn informiert. So kann er sich mit seinem Hausarzt beraten, mit welchen UAW er evtl. rechnen muß. Während der Pandemiemaßnahmen wurde der Kontakt zum Bürger abgebrochen. Das war nicht gut. Er sollte wieder hergestellt werden.

Christina Del Prete 18.08.202207:05 Uhr

Die evidenzbasierte Medizin wird seit über 2 Jahren mit Füssen getreten, Lauterbach blamiert ganz Deutschland mit seinem pseudowissenschaftlichen Getweete. Er scheint meist nur die Titel der Studien zu lesen, das ist schon Wissenschaftlern aus anderen Ländern aufgefallen

Dr. Hans-Joachim Kremer 17.08.202209:58 Uhr

Hervorragender Leitartikel!
Meine volle Unterstützung!

Peter Peschel 16.08.202209:36 Uhr

Klabauterbach - noch ein Verschwender mehr...!? Ego getrieben oder monetär gesteuert oder auch beides - zum Nachteil u. Schaden der Steuerzahler und zum Vorteil u. Gewinn der Pharma u. Co. in Millionenhöhe - wie damals bei der vermeintlichen Schweinegrippe Plandemie...! CORONA - erst einmal mehr als 4 Mio Impfdosen schon vernichtet und nun auch noch das: - Hunderttausenden Packungen Paxlovid droht nun auch die Vernichtung -
...Paxlovid soll wirksam schwere Verläufe einer Coronaerkrankung verhindern. In Deutschland stößt das Medikament allerdings auf wenig Gegenliebe...
...Pilsinger sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) mit Blick auf die bereits erfolgte Vernichtung von mindestens vier Millionen Corona-Impfstoffdosen: »Dass nun Paxlovid-Dosen für Millionen von Euro abzulaufen drohen, zeigt, dass Karl Lauterbach nichts dazugelernt hat.« Bevor das wertvolle Medikament ungenutzt abläuft, »sollte man es lieber an ärmere Länder verschenken«, forderte der CSU-Politiker.
Quelle: https://www.spiegel.de/wirtschaft/corona-medikament-hunderttausenden-packungen-paxlovid-droht-vernichtung-a-f9295a70-0e56-4b5b-bbcc-f14eee039297?xing_share=news#ref=rss

Dr. Dirk Boujong 16.08.202206:45 Uhr

wieso off-label? kennt der Autor Herrn Lauterbach gut genug um zu wissen, dass er keine Risikofaktoren für einen schweren Verlauf hat?

Dr. Diemut Fuchs antwortete am 16.08.202212:45 Uhr

Sehr geehrter Herr Kollege (?),

Ihr Kommentar bekäme im Deutschaufsatz eine 6 wegen Themaverfehlung. Ob Indikation oder nicht steht ja hier gar nicht zur Debatte, sondern die (gezielte?) Beeinflussung der medizinisch ungebildeten Bevölkerung durch einen Politiker zu eigenen Zwecken: politisches Kalkül bzgl. ökonomischer Fehlplanung diesmal beim Medikamentenkauf und/oder Selbstdarstellung als alles besserwissender Medizin-Guru (Professor der Epidemiologe = blutiger Theoretiker).
Hätte Lauterbach in seinem „Tweet“ - man beachte den durch eine andere Politiker“persönlichkeit“ eingeführten Kommunikationsstil - auf persönliche Risikofaktoren hingewiesen, hätte dies einem Mißverständnis als generelle Handlungsempfehlung vorgebeugt und die Beurteilung des Vorgangs auch für Laien relativiert.

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