Krankenkassen
Mehr Kontrolle von Pflege-WGs gefordert
Senioren-Wohngemeinschaften und betreute Wohnanlagen erfreuen sich großer Beliebtheit. Kassen wie die Barmer haben aber ein Problem mit den „Shooting-Stars“ am deutschen Pflegemarkt.
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Senioren, die sich für betreutes Wohnen oder eine Wohngemeinschaft entscheiden, suchen vor allem mehr Lebensqualität. Auch die geringeren Eigenanteile im Vergleich zu Pflegeheimen sind mitunter ein Argument für diese Wohnform.
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Berlin. Krankenkassen wollen alternative Wohnformen im Alter stärker kontrollieren. Angebote wie betreutes Wohnen oder Senioren-WGs seien für Bewohner und Betreiber zwar „finanziell lohnend“. Sie unterlägen bislang jedoch keiner Qualitätskontrolle wie Pflegeheime, sagte der Vorstandschef der Barmer-Krankenkasse Professor Christoph Straub bei der Vorstellung des neuen „Pflegereports“ der Kasse am Donnerstag. „Wir fordern daher eine Harmonisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen zwischen den Bundesländern und einen Pflege-TÜV für neue Wohn- und Pflegeformen.“
Auch die AOK verlangte „dringend mehr Transparenz“ über die Qualität der Pflege und Betreuung im betreuten Wohnen und in Pflege-WGs. Das Modell des Pflege-TÜV lasse sich aber nicht einfach auf die neuen Wohnformen übertragen. „Es handelt sich ja um hybride Strukturen, an denen viele Akteure beteiligt sind – von den Angehörigen über Ehrenamtliche bis hin zu Pflegediensten“, sagte die Abteilungsleiterin für Pflege beim AOK-Bundesverband, Nadine Michèle Szepan, der „Ärzte Zeitung“ am Donnerstag. Die Situation des Pflegebedürftigen müsse bei der Qualitätssicherung im Mittelpunkt stehen, betonte die AOK-Expertin.
Derzeit müssen sich nur ambulante Dienste und Pflegeheime regelmäßigen Qualitätsprüfungen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung unterziehen. Die Regulierungen von Anlagen des betreutem Wohnens und Pflege-WGs beschränken sich zumeist auf Melde- und Anzeigepflichten sowie auf ordnungsrechtliche Prüfungen.
Alternative Wohnformen seien im Vergleich zum Pflegeheim allein im Jahr 2018 um knapp 400 Millionen Euro teurer gewesen, ohne dass es einen gesicherten Nachweis der Pflegequalität gäbe, sagte Barmer-Chef Straub. Würden sich alle Pflegebedürftigen mit Pflegegrad II dafür entscheiden, summierten sich die Mehrausgaben auf 560 Millionen Euro im Jahr.
Eigenanteile bei alternativen Wohnformen geringer
Straub betonte, steigende Eigenanteile an den Heimkosten führten dazu, dass sich immer mehr Menschen im Alter für alternative Wohnformen entschieden, da die Eigenanteile dort „deutlich geringer“ seien. Die Kassen wollten die neuen Versorgungsformen nicht abschneiden. Diese müssten aber einen Qualitätsnachweis erbringen.
399 Millionen Euro günstiger wäre die Pflege 2018 gewesen, wenn alle Pflegebedürftigen aus betreutem Wohnen und Pflege-WG in einem Pflegeheim versorgt worden wären, heißt es im neuen Pflegereport der Barmer.
Der Autor der Studie, der Bremer Gesundheitsökonom Professor Heinz Rothgang, wies daraufhin, dass bei betreutem Wohnen mehrere Leistungen der Kranken- und Pflegekassen gleichzeitig in Anspruch genommen werden könnten. Solche Stapelleistungsmodelle seien für Pflegebedürftige wie Anbieter attraktiv, „nur nicht für die Beitragszahler“. Wenn die höheren Ausgaben nicht durch bessere Qualität gerechtfertigt seien, „dann haben wir ein Problem“. Bislang gebe es keine Belege für ein Mehr an Qualität.
Laut Pflegereport nimmt das Angebot an betreutem Wohnen und Pflege-WGs in Deutschland stetig zu. Derzeit leben den Angaben zufolge 181.000 Pflegebedürftige in solchen Einrichtungen – rund 150.000 nutzen allein das betreute Wohnen.
Mehr Lebensqualität – ein wichtiges Kriterium
Der Report geht von bundesweit bis zu 8000 Wohnanlagen und 4000 Pflege-WGs aus. Etwa jede dritte Anlage sei nach 2009 entstanden. Allein 2018 seien weitere 340 Anlagen mit 10.000 Plätzen in Bau oder in Planung.
„Wer sich für betreutes Wohnen oder eine Wohngemeinschaft entscheidet, sucht vor allem mehr Lebensqualität“, betonte Straub. Die Qualität der Pflege dürfe aber nicht auf der Strecke bleiben. Der Report zeige, dass betreutes Wohnen und Pflege-WGs im Vergleich zu Heimen nicht mit mehr Pflegequalität punkten könnten. Indizien dafür seien etwa weniger Arztkontakte.
Während knapp 87 Prozent der Heimbewohner einmal im Monat einen Hausarzt sähen, sei dies in betreutem Wohnen und in Wohngemeinschaften nur bei rund 80 Prozent der Bewohner der Fall. Zugleich müssten 3,6 Prozent der Bewohner des betreuten Wohnens wegen Erkrankungen ins Krankenhaus, die sich eigentlich ambulant „sehr gut“ behandeln ließen. In Heimen träten nur 2,4 Prozent solcher Fälle je Monat auf.
3,6-Milliarden-Euro-Defizit
Laut Barmer-Report betrugen die Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung 2018 gut 38,2 Milliarden Euro und damit knapp drei Milliarden mehr als im Jahr zuvor. Die Einnahmen stiegen um gut 1,6 Milliarden auf rund 37,7 Milliarden Euro. Die Gesamtausgaben lagen bei knapp 41,3 Milliarden Euro im Jahr 2018, womit das Pflegedefizit von 2,42 Milliarden Euro im Jahr 2017 auf knapp 3,6 Milliarden Euro im Jahr 2018 anwuchs.
Die Zahl der Pflegebedürftigen schnellte von 1999 bis 2017 um knapp 70 Prozent nach oben. Von den gut 3,4 Millionen Pflegebedürftigen erhielten 1,76 Millionen (51,7 Prozent) Pflegegeld. 830.000 Personen (24,3 Prozent) bezogen Pflegesachleistungen. Knapp 800.000 Senioren (23,2 Prozent) wurden in Heimen versorgt.
Die Zahl der ambulanten Pflegedienste stieg von 10.820 im Jahr 1999 auf mehr als 14.000 im Jahr 2017. Auch die Zahl der Heime legte zu – von rund 8.900 auf zuletzt knapp 14.500. Mehr als 1,1 Millionen Beschäftigte zählten Pflegedienste und Heime zusammen.