Leitartikel zur Pflege
Mit geballter Kraft zum großen Wurf
Mit ihren Plänen zur Pflegereform geht die große Koalition die anstehenden Herausforderungen durch den demografischen Wandel mit Bedacht an. Es zeigt aber auch: Die von den Volksparteien gebildete Regierung hat die Kraft, auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren.
Veröffentlicht:Die große Koalition zeigt, was die Bündelung der Macht der beiden großen Volksparteien ermöglicht. Sie kann offenbar sogar bewirken, dass in Deutschland tatsächlich ein "Jahr der Pflege" anbrechen könnte.
Immer vorausgesetzt, Union und SPD ziehen durch, was sie mit ihrem Koalitionsvertrag angestoßen haben, dann sind die angekündigten Reformen mehr als eine milde Gabe an ein darbendes Sozialsystem. Es ist, so ist zu hoffen, der Anfang einer Entwicklung, an deren Ende ein weitaus stärker professionalisiertes Pflegesystem als heute stehen wird.
Die Koalition, an dieser Stelle vertreten durch Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), hat in dieser Woche eine umfassende Pflegereform auf den Weg gebracht. Die Soziale Pflegeversicherung wird damit gegen Ende der Legislaturperiode rund 27 Milliarden Euro ausgeben können, fünf Milliarden Euro mehr als bisher.
Und das ist noch nicht alles. Zusätzlich werden mehr eine Milliarde Euro im Jahr aller Voraussicht nach in einen Vorsorgefonds fließen, mit dem ab dem Jahr 2035 Beitragserhöhungen abgefedert werden sollen. Diese Aufstockung eines sozialen Sicherungssystem ist in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ohne Beispiel.
Kaum hörbare Proteste gegen Beitragserhöhung
Trotz der auffälligen Dimensionen gibt es gegen die Erhöhung des Beitrags zur Pflegeversicherung um 0,5 Prozentpunkte keine wirklich hörbaren Proteste. 2,5 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig.
Das Ausmaß des Bedarfs und seiner perspektivischen Steigerungsraten ist sichtbar. Wenn eine Regierung auf diesem Feld die Initiative ergreift, kann sie mit einem weit in die Gesellschaft reichenden Konsens rechnen.
Wenn überhaupt Kritik laut wird, dann daran, wie das Geld verwendet werden soll. Zum Beispiel beklagen Sozialverbände, dass die Abkehr von der Minutenpflege und die regelhafte Einbeziehung von an einer Demenz erkrankten Menschen nicht sofort, sondern erst nach wissenschaftlicher Vorbereitung in drei Jahren umgesetzt werden soll.
Bei vielen Verbänden reibt man sich nach den Jahren der vollmundigen Ankündigungen und der Reformtrippelschritte angesichts der geplanten Reformsprünge der aktuellen Koalition die Augen. Der pflegepolitische Sprecher der Unionsfraktion, Erwin Rüddel, beschreibt dies so: "Die Pflege glaubt noch nicht, wie ernst wir das Thema nehmen."
Das klassische Familienbild verblasst
Mit viel Respekt, aber auch einer Spur Traditionsduseligkeit, wird die Familie von Politikern gerne als "größter Pflegedienst Deutschlands" umarmt. Folgerichtig stärken die ersten Reformschritte der großen Koalition die Pflege zu Hause. Der geltende Grundsatz "ambulant vor stationär" wird bei der Geldverteilung noch gewahrt.
Tatsächlich hat die Politik immer schon auf die Solidarität in der Familie gesetzt. Das wird auch weiter so sein, aber der Blick auf die demografischen Entwicklungen lehrt auch die gegenwärtig handelnden Politiker, dass das klassische Familienbild verblasst.
Von den rund 2,5 Millionen Menschen, die Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehen, werden etwa 1,75 Millionen zu Hause versorgt, oft rund um die Uhr von Angehörigen. Die Gesellschaft als Ganzes muss sich darauf einstellen, dass es diese viele Milliarden Euro werten Leistungen künftig nicht mehr "kostenlos" gibt.
Mehr Menschen in einem Alter, in dem sie pflegebedürftig werden können, stehen immer weniger Angehörigen gegenüber, die sie pflegen können. Nach Hochrechnungen könnten in 30 Jahren bis zu fünf Millionen Menschen pflegebedürftig sein.
Professionalisierung ist unausweichlich
Das führt zu den weiteren Schritten der Reform. Dass Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind, stärker als bisher von den Leistungen der Pflegeversicherung profitieren sollen, ist ebenfalls bereits angestoßen worden. Aber diese Leistungen werden den Bedarf an Arbeitskraft weiter anheizen.
Dass es den Trend zur Professionalisierung in der Pflege geben muss, wird auch in der Union nicht mehr bestritten. Die Koalition plant, noch in diesem Jahr ein Pflegeberufegesetz auf die Schiene zu setzen.
Das heißt zwar nicht, dass die in den kommenden Jahren zusätzlich benötigten Pflegekräfte damit schon verfügbar sind. Es kann aber dazu beitragen, die Attraktivät und die Wertschätzung der Pflegeberufe aufzuwerten.
Daran wiederum hängen auch die Versorgungsstrukturen um die Pflege herum. Stichwort: Delegation ärztlicher Leistungen. Es gibt einen gesetzlichen Auftrag, Modellprojekte zur Delegation anzustoßen. Passiert ist auf diesem Feld seit Jahren wenig.