Zweite Migrantenstudie
Niedergelassene Ärzte mit Sprachkenntnissen sind die erste Anlaufstelle
Forscher haben den Zugang von Migranten zum Gesundheitssystem untersucht – mit zum Teil überraschenden Ergebnissen: Nicht Notfallambulanzen, sondern Praxen sind erste Ansprechpartner. Muttersprachler und englisch-sprechende Ärzte sind besonders gefragt.
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Sprachbarriere: Vielerorts helfen Dolmetscher oder private Begleiter bei der Arzt-Patienten-Kommunikation.
© Wolfram Kastl / dpa / picture
Patienten mit Migrationshintergrund benötigen Gesundheitslotsen, Ärzte mehr interkulturelle Kompetenz. Nur so, lautet die Folgerung aus der zweiten Berliner Migrantenstudie, bestehe die Chance, diese Menschen ins Gesundheitswesen zu integrieren und später hohe Folgekosten zu vermeiden.
Im Unterschied zur ersten Migrantenstudie aus dem Jahr 2015 lag das Interesse der Forscher des Gesundheitswissenschaftlichen Instituts Nordost (GeWINO) der AOK Nordost diesmal nicht nur auf Zuwanderern, die in jüngerer Zeit nach Deutschland gekommen sind. Für die zweite Untersuchung wurde auch die Versorgungsentwicklung der türkischen Einwanderer betrachtet – und zwar aufgeteilt nach der ersten, zweiten und dritten Generation.
63 Prozent: "Keine Probleme im Gesundheitswesen"
Ein Interessenschwerpunkt, den die Forscher verfolgten, war nichtsdestotrotz: Wie finden sich die Flüchtlinge, die seit 2014 ihr Heimatland verließen und jetzt in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern leben, im hiesigen Gesundheitswesen zurecht? 109 Migranten, hauptsächlich aus Syrien und mehrheitlich erst seit 2015 in Deutschland, wurden dazu in Berlin befragt. Rund 85 % der Teilnehmer hatten schon erste Erfahrungen mit Gesundheitseinrichtungen gemacht. Als häufigste Anlaufstelle im Krankheitsfall wurden niedergelassene Ärzte und Zahnärzte genannt, interessanterweise vor Apotheken und Krankenhäusern.
Für ein adäquates Arztgespräch sahen sich die Flüchtlinge allerdings noch nicht gerüstet, dafür seien ihre Deutschkenntnisse zu schlecht, fanden 93 % der Teilnehmer. Sie versuchen deshalb, muttersprachliche Ärzte aufzusuchen oder einen Begleiter mit Deutschkenntnissen zum Praxisbesuch mitzunehmen.
In den Augen der Flüchtlinge funktioniert das offenbar ganz gut: 63 % der Befragten gaben an, noch keine Probleme im Umgang mit dem Gesundheitswesen gehabt zu haben. Das lag daran, dass 27 % bei einem Landsmann in Behandlung waren, 23 % sich begleiten ließen und der Rest mit Englisch gut weiterkam.
22 % der befragten Migranten berichteten jedoch von Problemen: 10 % verstanden die Ratschläge des Arztes nicht, 5 % interpretierten sie falsch und in 5% der Fälle hatte der Doktor den Patienten nicht verstanden.
Für die Studie wurden auch die Routinedaten von 18.000 syrischen Flüchtlingen mit Daten von AOK-Versicherten ohne Migrationshintergrund verglichen. Das Ergebnis: Die Leistungsinanspruchnahme der Asylbewerber liegt derzeit in allen Bereichen, auch in der Psychiatrie, deutlich unter der Referenzpopulation.
Die Tatsache, dass syrische Flüchtlinge im Krankheitsfall Rat und Hilfe zu allererst bei Muttersprachlern suchen, die schon länger in Deutschland sind, ist für GeWINO-Geschäftsführer Professor Thomas P. Zahn ein wichtiges Signal: In den jeweiligen "Communities" müssten Landsleute gefunden werden, die sich qualifizieren und dann als Gesundheitslotsen die Aufgabe übernehmen, die Flüchtlinge an die Hand zu nehmen und den Weg durchs System zu weisen, sie etwa auf Präventionsangebote hinweisen.
Lotsen aus dem gleichen Kulturkreis
Das gleiche Prinzip gelte für die türkischen Einwanderer der ersten und zweiten Generation. Auch sie benötigten mehr Hilfe durch Landsleute. Bei der ersten Generation der heute im Schnitt 70-Jährigen fällt auf, dass die Pflegebedürftigen vor allem zu Hause durch Angehörige versorgt werden, ambulante Pflegedienste oder Tages- und Kurzzeitpflege kaum in Anspruch genommen werden.
Auch hier, so Zahn, müsste es Lotsen aus dem gleichen Kulturkreis geben, welche die Angehörigen über Entlastungsmöglichkeiten aufklären. Auch Präventionsangebote könnten auf diese Weise besser bekannt gemacht werden. Das sei etwa für die Türken der zweiten Generation, den heute 30- bis 60-Jährigen, wichtig. Sie nehmen mehr GKV-Leistungen in Anspruch als die Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund.
Einen zweiten Baustein zur Integration ins Gesundheitswesen sehen die Studienautoren auch darin, Beschäftigten im Gesundheitsbereich mehr interkulturelle Kompetenz zu verschaffen. "Ärzte müssen in der Lage sein, mit der besonderen Lage bei Flüchtlingen umzugehen", sagt GeWINO-Geschäftsführer Zahn. Das gelte besonders in Gegenden, in denen Flüchtlinge nicht wie etwa in Berlin auf muttersprachliche Ärzte zurückgreifen können.
Die Studienautoren empfehlen, bei den neuen Zuwanderern nicht die gleichen Fehler zu machen wie bei den türkischen Migranten. Bei ihnen sei die Integration ins Gesundheitswesen erst in der dritten Generation gelungen. Erst in dieser Altersgruppe sei die Leistungsinanspruchnahme etwa gleich hoch wie bei den Nichtmigranten.
"Wenn die Integration der syrischen Zuwanderer nicht oder deutlich zeitverzögert gelingt, ist mit erheblichen Mehrkosten im Gesundheitswesen in den nächsten 20 Jahren und im Alter zu rechnen", heißt es in der Studie.
Das GeWINO kooperierte mit dem bbw Bildungswerk der Wirtschaft in Berlin und Brandenburg und mit der bbw Hochschule Berlin.