Interview
"Palliativmedizin schafft erheblichen ökonomischen Wert"
Palliativmedizin und Ökonomie - das passt!, findet Professor Steffen Fleßa von der Universität Greifswald. Im Interview erklärt der Ökonom, warum die Palliativmedizin neben dem medizinischen auch einen volkswirtschaftlichen Nutzen hat.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Herr Professor Fleßa, Sie sagen, die Palliativmedizin habe einen ökonomischen Nutzen. Was meinen Sie damit?
Prof. Steffen Fleßa: Wenn man sich die Frage stellt, welche ökonomische Bedeutung die Palliativmedizin hat, kann man entweder sagen, sie kostet eine Menge Geld oder - andersherum - sie schafft einen erheblichen ökonomischen Wert, auf den unsere Gesellschaft angewiesen ist. Beides stimmt.
Inwiefern schafft die Palliativmedizin wirtschaftlich Wert?
Professor Steffen Fleßa
1998-2003: Professor für Krankenhausbetriebslehre, Evangelische Fachhochschule Nürnberg.
2003-2004: Professor für Internationale Gesundheitsökonomik, Hygieneinstitut, Universität Heidelberg.
seit 2004: Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsmanagement, Ernst-Moritz-Arndt- Universität Greifswald.
Fleßa: Allein die Gesundheitsausgaben in Deutschland betragen zehn bis elf Prozent des Bundesinlandsproduktes. Palliativmedizin kostet davon zwar nur einen Bruchteil. Aber wir müssen der Gesellschaft erklären, warum wir dennoch so viel Geld für sterbende Menschen ausgeben.
Wir tun das erstens, weil es viel teurer wäre, Sterbende etwa auf einer normalen Intensivstation zu behandeln. Deshalb muss die Palliativmedizin auch deutlich mehr Geld erhalten. Und wir tun es zweitens, um das Fundament unserer Gesellschaft und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unserer Ökonomie zu erhalten.
Wie, bitte?
Fleßa: Unsere Gesellschaft ist dynamisch, komplex und vor allem für die Akteure sehr unsicher. Das heißt: Wer ökonomisch handelt, geht bei uns ein großes Risiko ein. Denn längst ist die Unvorhersehbarkeit zukünftiger Entwicklungen ein Grundcharakteristikum unserer Gesellschaft geworden.
Selbst kleine Veränderungen an einer Stelle können durch die großen Wechselwirkungen in der Gesellschaft große Folgen haben.
Sie meinen den sogenannten Schmetterlings-Effekt ...
Fleßa: Ja, das sind chaotische Systeme. Man kann nicht mehr einen Jahresplan machen und ihn dann mit aller Gewalt durchziehen, was ja im Übrigen unser Gesundheitswesen über Jahrzehnte hinweg getan hat.
Planung heißt heute, nach vorne zu schauen und immer wieder neu abzuwägen, was sich verändert, welche Möglichkeiten ich habe, wie ich mich auf Neues einstellen kann. Wenn man sich vor 30 Jahren als Arzt niedergelassen hat, konnten einen vielleicht nur Epidemien, Kriege oder Naturkatastrophen aus der Bahn werfen.
Heute reicht es, wenn die Leute in die Städte abwandern. Schon Clausewitz beschrieb übrigens genau diese Unsicherheit für die Zeit der nachnapoleonischen Kriege.
Was hat diese Unsicherheit mit der Palliativmedizin zu tun?
Fleßa: Nun, wie sollten wir Menschen dazu bewegen, sich in derart unsicheren Zeiten auf das Abenteuer einzulassen, ein Unternehmen zu gründen und unsere Wirtschaft vital zu halten? Auch ein Arzt, der ja auch wie ein Unternehmer handelt, wird letztlich nur das Risiko der Niederlassung eingehen, wenn er weiß: Diese Gesellschaft gibt mir das Versprechen, dass sie sich auch dann um mich kümmert, wenn ich todkrank bin.
Ich spreche hier von der Letztverlässlichkeit auf das moralische Kapital einer Gesellschaft. Moralkapital ist ebenso notwendig wie Finanzkapital, Sozialkapital oder Humankapital.
Gemeint sind Fairness, Gemeinsinn, Ritterlichkeit, Hilfsbereitschaft, Verlässlichkeit, Vertrauen und so weiter. Dieses Moralkapital ist als Produktionsfaktor unerlässlich! Eine Gesellschaft etwa ohne Vertrauen wäre wirtschaftlich am Ende. Dieses Kapital zeigt sich auch in der Palliativmedizin.
Im Zweifel wird jemand für mich da sein, auch seelsorgerlich, und zwar unabhängig von Kirchenmitgliedschaft oder ob ich mit meinem Unternehmen auf die Nase gefallen bin oder ob ich in Ost oder West lebe. Stellen Sie sich vor, Sie müssten bei jedem Tomatenkauf einen Notar bemühen. Nein, Sie müssen dem Gemüsemann auf dem Markt vertrauen können.
Da würden Ihnen viele Ärzte widersprechen. Dr. Matthias Thöns berichtet zum Beispiel davon, wie viel überflüssige und manchmal quälende Medizin am Lebensende der Patienten gemacht wird. Da geht's ums Geld und nicht um Moral.
Fleßa: Gewiss, wir sind noch nicht am Ende des Weges angekommen. Aber fest steht: Es ist jemand da, der sich kümmert - und zwar unabhängig davon, ob ich erfolgreich war oder nicht.
Die Fähigkeit des Menschen, sich in seiner aktiven Lebensphase zu engagieren, hängt auch davon ab, dass er weiß: "Wenn ich nicht mehr kann, dann gibt es bestimmte Grundwerte, die für mich gelten." Wer würde denn sonst sein ganzes Vermögen in ein Unternehmen pumpen?
Eine der schlimmsten Folgen der Hartz-IV-Gesetze ist, dass es diese Letztverlässlichkeit zumindest im materiellen Bereich nicht mehr gibt. Es kann heute sein, dass jemand sein ganzes Leben hart arbeitet und am Schluss alles verliert und richtig arm ist.
Kurzfristig mag Hartz-IV richtig sein. Aber langfristig braucht eine Gesellschaft ein Grundfundament. Nur so gehen Menschen wirtschaftliche Risiken ein und strampeln sich ab.
Und Palliativmedizin garantiert eben, dass am Ende nicht automatisch Einsamkeit und Leid und Schmerzen stehen, sondern mir zugewandte, sinnvolle Medizin, die mich auch bis zum Lebensende begleitet.
Nur so kann ich auch als homo oeconomicus in jungen Jahren sagen: In dieses Leben investiere ich.
Und die Frage ist jetzt: Was müssen wir tun, damit das Moralkapital gestärkt wird? Eine der Antworten ist: Die Palliativmedizin ausbauen!