"Schnellstmöglich nationale Maßnahmen treffen"

Pharmabranche fürchtet chaotische Zustände nach Brexit

Die Reaktionen der Pharmabranche auf die gestrige Ablehnung des Brexit-Vertrags sind eindeutig: Unisono wird vor negativen Folgen des anstehenden Brexits für die Gesundheitsversorgung gewarnt – im Vereinigten Königreich wie in der EU.

Ruth NeyVon Ruth Ney Veröffentlicht:
Demonstranten vor der gestrigen Abstimmung über das Brexit-Abkommen.

Demonstranten vor der gestrigen Abstimmung über das Brexit-Abkommen.

© Bradley Page / picture alliance / Solo Syndication

NEU-ISENBURG. Die verbleibenden 27 Mitglieder der Europäischen Union (EU) und auch Großbritannien müssen im Falle eines sogenannten „harten“ Brexits dringend Maßnahmen ergreifen, um die Arzneimittelversorgung ihrer Bevölkerung sicherzustellen, betont der Bundesverband der Arzneimittelhersteller in einer Mitteilung.

Der am Dienstagabend im britischen Unterhaus abgelehnte Brexit-Vertrag erhöhe die Gefahr, dass nach einem ungeordnete Austritt Großbritanniens aus der EU es hierbei zu chaotischen Zuständen kommt – mit unabsehbaren Folgen sowohl für die in den verbleibenden EU-Staaten, aber auch in Großbritannien.

Derzeit gelangen über Großbritannien noch viele Roh- und Wirkstoffe auf den europäischen Markt. Darüber hinaus werde nahezu jedes vierte Arzneimittel für den gesamten EU-Markt in Großbritannien freigegeben und in Verkehr gebracht, so der BAH.

Angst vor dem No-Deal

„Um das zu erwartende Chaos abzumildern, müssen die Mitglieder der EU und auch Großbritannien dann selbst schnellstmöglich nationale Maßnahmen treffen, die zumindest in Teilen einen ungehinderten Warenfluss vom Stichtag an sicherstellen. Insbesondere Menschen mit schwerwiegenden Erkrankungen müssen weiterhin ihre gewohnten Arzneimittel erhalten“, sagt Dr. Elmar Kroth, Geschäftsführer Wissenschaft beim Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller e.V. (BAH).

Wenn Großbritannien ab dem 30. März tatsächlich nicht mehr Mitglied der EU sein wird, fällt das Land gegenüber der EU auf den Status eines Drittstaates und damit auf Bestimmungen der Welthandelsorganisation (WTO) zurück. Mit Sorge kommentiert der BAH, dass es durch die Ablehnung des Austrittsvertrags im britischen Parlament auch keine Übergangsphase gebe, was das Risiko von empfindlichen Störungen der Arzneimittelversorgung in den gegenseitigen, stark verflochtenen Lieferketten noch erhöhe.

Auch Dr. Martin Zentgraf, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e.V. (BPI) äußert sich in einer Stellungnahme besorgt. „Das britische Parlament besiegelt politisch und wirtschaftlich unsichere Zeiten. Medikamente, die für ganz Europa in Großbritannien zugelassen wurden, dürfen von jetzt auf gleich nicht mehr in Europa vertrieben werden.“

Gleichzeitig müssten pharmazeutische Unternehmen mit chaotischen Zuständen rechnen durch den Rückfall auf die WTO-Regeln, inklusive der damit verbundenen Tarife, Zölle und anderer Restriktionen. „Wir können nur hoffen, dass es hier nicht auf beiden Seiten zu Lieferengpässen kommt“, so Zentgraf.

Arzneimittelbestände erhöht

Bereits am Dienstagabend hatte sich auch der der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen in Deutschland (vfa) zu Wort zu den drohende medizinischen Engpässen auf der britischen Insel zu Wort gemeldet. Pharma-Unternehmen hätten ihre Arzneimittelbestände im Vereinigten Königreich für den Brexit erhöht.

Ob dies aber für einen ungeregelten Brexit ausreicht, um mögliche Störungen im Warenverkehr auszugleichen, wisse niemand, so der vfa. Für Hauptgeschäftsführerin Birgit Fischer steht allerdings fest, dass das Vereinigte Königreich den bevorstehenden Stresstest für das Gesundheitssystem und die Wirtschaft wesentlich schwerer wegstecken könne als die EU.

Probleme werde es auch bei laufenden klinischen Prüfungen neuer Arzneimittel geben. Denn der Sponsor einer klinischen Prüfung muss seinen Sitz in einem EU-Mitgliedstaat haben oder dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) angehören. Anderenfalls entfällt die Grundlage für Genehmigung und Durchführung klinischer Prüfungen. Darauf hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte im Dezember hingewiesen.

Bundesregierung beruhigt

Die Bundesregierung glaubt indes nicht, dass es zu Engpässen bei Medikamenten kommen wird, sagte eine Sprecherin des Bundesgesundheitsministeriums am Mittwoch. Man sehe hier die Pharmaindustrie in der Pflicht, hieß es. Die EU-Kommission warnte am Mittwoch vor Illusionen: „Der Brexit richtet Schaden an, er schadet Großbritannien und der EU“, sagte Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission.

Noch im Dezember hatte der britische Gesundheitsminister Matt Hancock Kliniken und regionale Vertretungen des National Health Service (NHS) aufgefordert, keine Medikamente und Impfstoffe gesondert zu horten. Das ziehe unnötige Engpässe nach sich, die Patienten gefährden. Professor Andrew Goddard, Präsident des Ärzteverbands Royal College of Physicians, schrieb zurück, Vertrauen in das Gesundheitssystem schaffe die Politik am besten durch Transparenz. Doch die fehlt vielen der über eine Million Beschäftigten des NHS schon lange.

Handelsvolumen bereits gesunken

Erste Schätzungen des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI) zeigen, dass bereits vor dem anstehenden Brexit der Handel der deutschen Chemie- und Pharmabranche mit Großbritannien eingebrochen ist.

Im vergangenen Jahr sank demnach das Handelsvolumen mit dem Vereinigten Königreich um fast 10 Prozent auf 16 Milliarden Euro. Nach VCI-Zahlen exportierten deutsche Unternehmen Produkte im Wert von 10,2 Milliarden Euro auf die Insel und importierten chemische Erzeugnisse für 5,8 Milliarden Euro von dort. 2017 wurden noch Chemieprodukte und Arzneien im Wert von insgesamt 17,7 Milliarden Euro zwischen Deutschland und Großbritannien ausgetauscht.

Möglicherweise hätten deutsche Pharmaunternehmen weniger Medikamente von der Insel importiert und stattdessen zur Risikovorsorge vor einem Brexit Verträge mit anderen Zulieferern in Europa als Ersatz für britische Produkte abgeschlossen, so der VCI.

Großbritannien ist einer der größten Abnehmer deutscher Medikamente. Mit dem Rückgang im vergangenen Jahr rutscht das Land auf Platz acht der wichtigsten Handelspartner der hiesigen Chemie- und Pharmabranche. 2017 lag Großbritannien noch auf Platz sieben.

Der Hauptgeschäftsführer des VCI, Utz Tillmann, bedauert die Ablehnung des Brexit-Abkommens durch das britische Parlament: „Durch das Votum stehen wir jetzt hart an der Abbruchkante zum ungeordneten Brexit.“ Bei einem Zusammenbrechen der Lieferketten reiche der Schaden weit über unsere Branche hinaus. Daher seien spezielle Übergangslösungen unverzichtbar, um die schlimmsten Auswirkungen abzumildern – vor allem für die Arzneimittelversorgung in Großbritannien.

Doch auch für die für chemische Stoffe und Produkte, hätte ein ungeordneter Brexit große Nachteile für die Branche. Als Beispiel führt Tillmann die EU-Chemikalienverordnung REACH an: „Im Fall eines ungeordneten Brexit dürfen chemische Stoffe, die im Vereinigten Königreich für den Vertrieb in der EU registriert wurden, nach dem Austritt nicht mehr ohne Weiteres in der EU verkauft werden.“ (Mitarbeit fst)

Dieser Beitrag wurde aktualisiert am 16.01.2019 um 16.30 h

Ihr Newsletter zum Thema
Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Neurologische Entwicklungsstörungen

Epilepsie in der Schwangerschaft: Start mit Lamotrigin empfohlen

Lesetipps
Ein Mann hat Kopfweh und fasst sich mit beiden Händen an die Schläfen.

© Damir Khabirov / stock.adobe.com

Studie der Unimedizin Greifswald

Neurologin: Bei Post-COVID-Kopfschmerzen antiinflammatorisch behandeln

Der gelbe Impfausweis

© © mpix-foto / stock.adobe.com

Digitaler Impfnachweis

eImpfpass: Warum das gelbe Heft noch nicht ausgedient hat

Ein Aquarell des Bundestags

© undrey / stock.adobe.com

Wochenkolumne aus Berlin

Die Glaskuppel zum Ampel-Aus: Eigenlob und davon in rauen Mengen