Unfall im Heim
Richterin will omnipräsente Pflegefachkräfte
Das Görlitzer Landgericht verurteilt ein Pflegeheim zu einer Geldstrafe, weil sie eine Bewohnerin der Obhut einer ungelernten Kraft überließen. Das Urteil sorgt für Entsetzen.
Veröffentlicht:GÖRLITZ. Dr. Georg Hanzl findet das Urteil "richtungsweisend", das sein Kreisverband des DRK Zittau und er als Vorstandsvorsitzender gerade vom Görlitzer Landgericht verkündet bekommen haben. Richtungsweisend in eine falsche Richtung, sagt Hanzl.
Tatsächlich muss das Urteil Betreiber von Pflegeeinrichtungen aufhorchen lassen. Denn der Beschluss der sächsischen Richterin legt nahe, ungelernte Kräfte vom direkten Kontakt mit Heimbewohnern auszuschließen.
"Das ist ein fatales Zeichen", sagt Hanzl, der auch stellvertretender Vorsitzender des sächsischen Hausärzteverbandes ist. Und jetzt gegen besagtes Urteil in Berufung geht.
Das DRK betreibt in Zittau ein Altenpflegeheim, darin auch einen "Wohnpflegehaushalt für Demenzkranke". Neben den Pflegefachkräften sind hier auch ungelernte Kräfte beschäftigt, zum Beispiel eine Jugendliche, die in dem Haus ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) absolvierte.
Jene FSJlerin war an dem Unfall beteiligt, der dem Urteil vorausging. Wie schon viele Tage zuvor hatte die Helferin im Oktober 2010 eine damals 84 Jahre alte Bewohnerin zum Mittagstisch geführt. Dort sollte sich die Frau kurz eigenhändig abstützen, während die FSJlerin einen Stuhl heranzog.
Die Bewohnerin stürzte und zog sich eine Femurfraktur zu. Es war ein logomotorischer Sturz, also einer, der seine Ursache hat in der verminderten Kraft der Bewohnerin hat, ihrem schwankenden Gangbild und intermittierendem Schwindel.
Die Kasse der Bewohnerin, die AOK Plus, sah die Schuld für den Sturz beim Pflegeheim, das seiner Betreuungspflicht nicht nachgekommen sei. Und verklagte das Pflegeheim auf Erstattung der Op- und Behandlungskosten in Höhe von knapp 7000 Euro. Das Heim hätte eine Pflichtverletzung begangen, "da die Versicherte nicht hätte allein am Tisch stehen gelassen werden dürfen", wird im Urteil zitiert.
Das DRK erwiderte, dass der Unfall nicht erwartbar gewesen sei und dass sich die Bewohnerin "völlig plötzlich und unvermutet, bevor der Stuhl herangezogen wurde, fallen lassen" habe.
DRK-Vorstand: "Lebensfremde Utopie"
Das Gericht folgte der Argumentation des Klägers. Es läge ein "schuldhafter Pflegefehler" vor, "im Bereich des vollbeherrschbaren Risikos". Das Heim müsse zahlen.
"Vollbeherschbar" - schon diese Einschätzung spricht für Georg Hanzl dem Pflegealltag Hohn, doch entsetzt ist er wegen eines anderen Satzes der Urteilsbegründung. Es sei ein "Organisations- und Überwachungsfehler" zu konstatieren, da die "ungelernte Hilfskraft" nicht die "zur Sturzvermeidung objektiv gebotenen Maßnahmen anwenden konnte".
Es handle sich um "einen Standardvorgang, der für eine Pflegekraft mit entsprechender Ausbildung überblickbar und mit der entsprechenden fachlichen Kompetenz auch vermeidbar gewesen wäre", heißt es im Urteil.
Wenn er das Urteil kommentieren muss, flüchtet sich Hanzl, der einem von Fachkräftemangel gebeutelten DRK-Kreisverband vorsteht, zunächst in Sarkasmus. "Die Richterin hat eine Theorie entwickelt, wie viele qualifizierte Mitarbeiter in Zukunft für die Betreuung alter Menschen benötigt werden".
Dass es kaum noch Tätigkeiten am Patienten gebe, die auch FSJler, Hilfskräfte oder ähnliche Kräfte ausüben könnten, geht für ihn aus dem Urteil deutlich hervor; aber selbst Fachkräfte könnten nach seiner Interpretation nur schwer die juristischen Anforderungen erfüllen.
Pfleger, die dermaßen geschult sind, dass sie mit Sicherheit Stürze oder ähnliche Unfälle vermeiden könnten, entsprängen einer "lebensfremden Utopie", so Hanzl. Jeder ältere Patient müsste dann fast ständig von mehreren Fachkräften regelrecht umklammert werden, um Klagen der Kassen vorzubeugen. Oder, so Hanzl, man "müsste die betreffenden Heimbewohner den ganzen Tag im Bett liegen lassen".
Das DRK Zittau hat deswegen gegen das Urteil Berufung eingelegt. Eine Entscheidung dazu steht noch aus.
Landgericht Görlitz, Az.: 1 O 453/13
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