Organspende
Soll nur noch der Widerspruch zählen?
Am Donnerstag entscheidet der Bundestag darüber, ob es bei der Organspende hierzulande zum Paradigmenwechsel kommt.
Veröffentlicht:Berlin. Erleichterungen für Ärzte beim Umgang mit dem Thema Organspende strebt der SPD-Gesundheitsexperte Professor Karl Lauterbach an.
Ohne eine klar geregelte Widerspruchslösung würden Angehörige und Ärzte in einer Grauzone bei einer wichtigen Entscheidung alleine gelassen. Ohne vorliegenden Organspendeausweis sprächen Ärzte die Angehörigen erfahrungsgemäß nicht an. Viel potenzielle Spendebereitschaft gehe so verloren, sagte Lauterbach am Montagnachmittag vor Journalisten in Berlin.
Für Ärzte sei es ohnehin eine Zumutung, sich mit der Organspende auseinanderzusetzen, wenn der potenzielle Spender nichts geregelt habe, sagte Lauterbach am Montag im Vorfeld der Abstimmung des Bundestages über den Wechsel zur Widerspruchslösung oder der Einführung einer modifizierten Zustimmungslösung.
Lauterbach hat gemeinsam mit Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), Georg Nüßlein (CSU), Petra Sitte, Gesundheitspolitikerin der Linken und 2018 weiteren Abgeordneten einen Gesetzesantrag vorgelegt, der zur Einführung der Widerspruchslösung im Oktober 2022 führen soll.
So wollen die Verfechter der doppelten Widerspruchslösung Klarheit und Rechtssicherheit schaffen:
- Wer Widerspruch gegen die Organspende einlegen will, soll sich in ein Register beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eintragen lassen können. Ein Anspruch auf den Erhalt von Organen geht damit nicht verloren. Die Transplantationsbeauftragten in den Krankenhäusern sollen Zugriff auf diese Information haben.
- Der Organspendeausweis soll weiterhin als Medium dienen, die Zustimmung oder Ablehnung zur Organspende zu dokumentieren.
- Angehörige oder nahe Vertrauenspersonen des Verstorbenen sollen bei unklarer Dokumentationslage vom Arzt befragt werden, ob ihnen ein schriftlicher Widerspruch oder ein der Organentnahme entgegenstehender Wille vorliegt. Lauterbach räumt ein, dass es hier zu einem nicht endgültig zu regulierenden Graubereich kommen könne.
„Jeder wird es wissen“
Lauterbach geht davon aus, dass zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes jeder Mensch in Deutschland sich darüber im Klaren sein werde, dass er ohne dokumentierten Widerspruch zunächst einmal als Organspender gelte. „Jeder wird es wissen“, sagte Lauterbach.
Jeder gesetzlich und privat Versicherte werde auf Kosten des Steuerzahlers, nicht der gesetzlich und privat Versicherten, binnen sechs Monaten dreimal angeschrieben. Zudem werde die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) auf allen Kanälen dazu informieren. Mindestens 325 Millionen Euro würden dafür aufgewendet.
Rund 84 Prozent der Menschen haben sich in einer BZgA-Umfrage von 2018 positiv zur Organ- und Gewebespende positioniert. Nur rund 40 Prozent der Menschen tragen jedoch einen Organspendeausweis bei sich. Die Realität ist aus Sicht der etwa 10.000 Menschen auf der Warteliste und aus Sicht der Transplantationsmediziner jedoch nach wie vor ernüchternd. Lediglich etwa elf Organspender je Million Einwohner zählt Deutschland.
In anderen Ländern liegt dieser Wert bei bis zu 30. Spanien, das den Herztod und nicht den Hirntod als Voraussetzung für die Organentnahme akzeptiert, kommt sogar auf 36. Der bevölkerungsreichste Staat der EU, Deutschland, ist innerhalb des Eurotransplantverbundes Nettoimporteur von Organen.
Erfahrungen aus Spanien
Die Einführung einer Widerspruchslösung ist nicht zwingend Auslöser hoher Spenderzahlen. In Spanien wurde die Widerspruchslösung bereits 1979 eingeführt. Erst nachdem 1989/90 auch die Strukturen in den Krankenhäusern reformiert wurden, begannen die Spenderzahlen langsam zu steigen. Strukturveränderungen in den Krankenhäusern sind in Deutschland bereits in der vergangenen Legislatur begonnen worden.
In Deutschland ist seit 2019 eine Änderung des Transplantationsgesetzes in Kraft. Sie soll klarere Zuständigkeiten in den Krankenhäusern für die Identifizierung potenzieller Organspender schaffen und dafür sorgen, dass die Entnahme von Organen nicht zum Minusgeschäft für die Kliniken wird.
Davon erwarten sich die Autorinnen und Autoren des zweiten zur Wahl stehenden Gesetzentwurfs Verbesserungen, die die Zahl der Organspender erhöhen könnten. Der ebenfalls fraktionsübergreifende Gesetzentwurf, der von der Vorsitzenden der Grünen Annalena Baerbock, der Vorsitzenden der AG Gesundheit der Unionsfraktion Karin Maag (CDU), Hilde Mattheis (SPD) sowie Katja Kipping (Linke), Otto Fricke (FDP) und 186 weiteren Abgeordneten getragen wird, setzt auf einfache Registrierung und Dokumentation der Organspendebereitschaft, die zudem jederzeit geändert und widerrufen können werden soll.
190 Unterzeichner für Baerbock-Entwurf
Im Einzelnen sieht der Entwurf folgende Regelungen vor:
- Erklärungen zur Organ- und Gewebespende sollen in einem bundesweiten Online-Register erfasst werden, das ebenfalls beim BfArM angesiedelt sein soll.
- Hausärzte sollen in die Beratung zur Organ- und Gewebespende eingebunden werden. Sie sollen ihre Patienten im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen alle zwei Jahre aktiv ansprechen. Dafür soll eine Gebührenziffer zur extrabudgetären Abrechnung eingeführt werden.
- Organ- und Gewebespende sollen in der ärztlichen Ausbildung verstärkt thematisiert werden. Die Approbationsordnung für Ärzte soll dementsprechend abgeändert werden.
Einen weiteren Entwurf stellt die AfD-Fraktion vor, den allerdings bislang ausschließlich die 90 AfD-Abgeordneten gezeichnet haben. Er setzt auf die Aufsicht über Eurotransplant durch eine unabhängige, öffentlich-rechtliche Institution. Zudem sollen Entnahmekrankenhäuser einheitliche Qualitätsstandards entwickeln. Außerdem soll die Einwilligungsfähigkeit in die Organspende erst mit 18 Jahren beginnen, nicht mit 16 Jahren, wie in den anderen Entwürfen.
Briefe an die Unentschlossenen
In Briefen haben die Vertreter der beiden Hauptpositionen am Wochenende und am Montag noch einmal bei den noch unentschlossenen Abgeordneten für ihre Gesetzentwürfe geworben.
Am Montag wandten sich Hilde Mattheis und Ulla Schmidt (SPD), Karin Maag und Stephan Pilsinger (Union), Otto Fricke (FDP), Kathrin Vogler (Linke) und Kirsten Kappert-Gonther (Grüne) an ihre Kollegen im Bundestag.
Niemand wisse, welche Folgen eine Widerspruchslösung für unsere Gesellschaft habe, heißt es in dem Schreiben, das der „Ärzte Zeitung“ vorliegt. Man solle bei den Patienten, die sich davon mehr Spenderorgane erwarteten, keine falschen Hoffnungen wecken. Die Gruppe, die sich für die Stärkung der Entscheidungsbereitschaft einsetze, sei der Meinung, dass man den Weg, Vertrauen zu schaffen, des Beratens und der Aufklärung sowie der Verbesserung der Organisation und Transparenz in den Krankenhäusern weiter gehen solle.
Die Widerspruchslösung setze dagegen auf die Trägheit der Menschen, die sich nicht mit dem Thema befassen wollten. „Schweigen darf nicht als Zustimmung gewertet werden“, heißt es in dem Brief.
Auch Jens Spahn hat sich zu Wort gemeldet und einen Brief versendet: „Allein mehr Ansprache, Aufklärung und Information werden nicht reichen“, schreibt der Gesundheitsminister in seiner Eigenschaft als Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Mit der Widerspruchslösung ändere sich an der Freiwilligkeit der Spende nichts. Die Frage, ob es sich bei der Widerspruchslösung um einen Eingriff in die persönliche Freiheit handele, beantwortet der Abgeordnete Spahn mit einer Gegenfrage: „Ist nicht die Freiheit der Bürger, die teilweise schwer krank auf eine lebensrettende Spende warten, am stärksten bedroht?“ Für die Gesunden bestehe die einzige Pflicht, sich Gedanken zu machen und eine Haltung zur Organspende einzunehmen.
Abschließende Lesung am Donnerstag
Am Donnerstag ab 9 Uhr berät der Bundestag in zweiter und dritter Lesung die vorliegenden Gesetzentwürfe. Hinter der Widerspruchslösung Spahn/Lauterbach stehen derzeit 222 Abgeordnete, hinter der Entscheidungslösung von Baerbock/Maag haben sich 191 Abgeordnete versammelt, hinter der AfD stehen 88 Abgeordnete (zwei Abgeordnete sind aus der Fraktion ausgetreten). Im Bundestag vertreten sind insgesamt 709 Abgeordnete.
Als Erstes abgestimmt wird der Antrag von Spahn/Lauterbach. Nötig ist die Mehrheit der Stimmen. Es sei möglich, dass alle drei Anträge keine Mehrheit erhielten, dann bleibe es bei der gegenwärtigen Zustimmungslösung, sagte Karl Lauterbach am Montag. (af)