Genehmigungsfiktion
Verfassungsbeschwerde: Sozialverband will Kassen an die Kandare nehmen
Das Bundessozialgericht hat 2020 eine für GKV-Versicherte günstige Bestimmung gekippt. Der Sozialverband VdK will nun erreichen, dass künftig wieder gilt: Entscheidet die Kasse nicht binnen drei Wochen, gilt die Leistung als genehmigt.
Veröffentlicht:Berlin/Karlsruhe. Der Sozialverband VdK Deutschland will mit einer Verfassungsbeschwerde erreichen, dass Krankenkassen regelmäßig wieder binnen einer bestimmten Frist medizinische Leistungen genehmigen müssen. Hintergrund ist eine überraschende Entscheidung des Bundessozialgerichts vom Mai 2020 (B 1 KR 9/18 R) Die Richter kippten damals die bislang geltende Interpretation der sogenannten Genehmigungsfiktion im Paragrafen 13 Absatz 3a SGB V.
Demnach hatten GKV-Versicherten bisher drei Wochen nach ihrem Antrag Gewissheit, dass die Leistung als genehmigt galt – wenn die Kasse nicht zuvor entschieden hatte. Im Fall der Einschaltung eines Gutachters betrug die Frist maximal fünf Wochen. Diese Genehmigungsfiktion sei eine Beschleunigungsnorm zugunsten der GKV-Versicherten gewesen, erläutert Holger Lange, Syndikusrechtsanwalt der Bundesrechtsabteilung des VdK, der „Ärzte Zeitung“.
„Da haben die Sektkorken bei den Kassen geknallt“
Doch mit seinem Urteil vom Mai 2020 habe der BSG hier eine „Kehrtwende hingelegt“. „Die im Gesetz angelegte Sanktionierung von Krankenkassen, die Fristen überschreiten, läuft seitdem leer“, erläutert der Jurist. De facto könnten die Kassen seitdem irgendwann über Leistungsanträge entscheiden. „Angesichts des BSG-Urteils müssen bei den Kassen die Sektkorken geknallt haben“, sagt Lange. Denn das scharfe Schwert des Gesetzgebers zugunsten versorgungsbedürftiger Versicherter gelte nur noch sehr eingeschränkt.
Ein Blick auf die Zahlen zeigt: Im Jahr 2020 haben die Krankenkassen in rund 167.000 Fällen die Drei- oder Fünf-Wochen-Frist überschritten. Doch eine Kostenerstattung hat es im selben Jahr nur in 325 Fällen gegeben. „Im Ergebnis wird das Sachleistungsprinzip quasi ausgehebelt“, kommentiert der Syndikusanwalt des Verbands mit 2,1 Millionen Mitgliedern. Denn rund 99 Prozent der Versicherten könnten nunmehr keinen Vorteil mehr aus der Genehmigungsfiktion ziehen.Nur wer finanziell in Vorlage geht, profitiert noch
Mit anderen Worten: Nur die Versicherten, die ausreichend finanzielle Mittel haben, um die Kosten beispielsweise für bestimmte Hilfsmittel oder medizinische Eingriffe vorzustrecken, können sich seit dem BSG-Spruch noch auf die Genehmigungsfiktion berufen – alle anderen gehen leer aus.
Denn zuvor war in der ständigen Rechtssprechung des Gerichts anerkannt, dass als Folge der Genehmigungsfiktion sowohl ein Anspruch auf Sachleistung, als auch ein Erstattungsanspruch für selbst bezahlte Versorgungsleistungen besteht. „Aus unserer Sicht hat sich das BSG in seiner Begründung nicht ausreichend mit den Folgen der Ungleichbehandlung von Versicherten auseinandergesetzt, die aus solch einer grundlegenden Neuinterpretation der Norm entstehen“, begründet Lange die Verfassungsbeschwerde.
„Soziale Spaltung wird zementiert“
Das Urteil verstoße im Kern gegen den Gleichheitsgrundsatz in Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz, resümiert VdK-Präsidentin Verena Bentele. Benachteiligt würden alle Menschen, „die nicht genug Geld haben, um über einen ungewissen Zeitraum eine große Summe vorzustrecken, ohne zu wissen, ob sie es überhaupt erstattet bekommen“, so Bentele.
Mit der Verfassungsbeschwerde solle erreicht werden, dass die Genehmigungsfiktion wieder voll hergestellt wird. Denn mit der BSG-Entscheidung würden „wissentlich die Unterschiede zwischen Reich und Arm zementiert, die soziale Spaltung vertieft sich weiter“, sagte Bentele. Sie verwies auf zahlreiche Studien, wonach der Gesundheitszustand von Menschen mit wenig Geld schlechter ist.