Coronavirus-Pandemie

WHO-Direktorin Neira: „Wir hätten deutlicher Alarm schlagen müssen“

Maria Neira, Direktorin für öffentliche Gesundheit und Umwelt bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO), spricht im Interview mit der „Ärzte Zeitung“ über die Suche nach einem COVID-19-Impfstoff, geschwächte Gesundheitssysteme und den richtigen Weg aus dem Lockdown.

Von Manuel Meyer Veröffentlicht:
Wir haben in Europa teilweise die Fähigkeit verloren, auf Virusepidemien zu reagieren: Maria Neira, Direktorin für Öffentliche Gesundheit und Umwelt bei der WHO.

Wir haben in Europa teilweise die Fähigkeit verloren, auf Virusepidemien zu reagieren: Maria Neira, Direktorin für Öffentliche Gesundheit und Umwelt bei der WHO.

© Martial Trezzini / KEYSTONE / picture alliance

Ärzte Zeitung: Weltweit mehr als 3,6 Millionen Corona-Infektionen und 260 . 000 Todesopfer. Wie viele Menschen werden sich global infizieren?

Maria Neira: Das ist schwer zu beantworten. Jüngste Studien in Europa zeigen uns, dass sich erst um die sechs Prozent der Bevölkerung angesteckt haben. Ohne einen Impfstoff müssten sich aber bis zu 70 Prozent infizieren, damit die Pandemie von selbst endet. Die Evolution ist schwer vorherzusagen. Alles hängt davon ab, wie schnell wir einen Impfstoff finden.

Oder von der von Ihnen erwähnten Herdenimmunität.

Das ist die große Frage! Vergleichbare Viren lassen vermuten, dass Antikörper uns zumindest einige Monate oder bis zu einem Jahr immunisieren. Bisher wissen wir aber noch nicht, ob und wie lange die gebildeten Antikörper uns vor einer Neuansteckung mit COVID-19 schützen.

Maria Neira

Die Spanierin Maria Neira hat nach ihrem Medizinstudium einen Master in Public Health an der Université René Descartes in Paris sowie ein Diplom in Notfallvorsorge und Krisenmanagement an der Universität Genf erworben.

Sie hat für Ärzte ohne Grenzen in El Salvador und Honduras gearbeitet, war für das Gesundheitsministerium in Moçambique tätig sowie für die Vereinten Nationen in Ruanda. Von 2002 bis 2005 war sie Vizegesundheitsministerin in ihrem Heimatland.

Bis wann rechnen Sie denn mit einem Impfstoff?

Normalerweise vergehen bis zu zehn Jahre, bis ein Impfstoff auf dem Markt ist. In diesem Fall bin ich optimistisch, dass wir in 12 bis 18 Monaten über einen sicheren und effektiven Impfstoff verfügen. Es gibt drei bis vier sehr vielversprechende Forschungsprojekte. Noch früher dürften wir ein Medikament zur Behandlung von COVID-19 finden.

Seitens der WHO verfolgen wir in einer internationalen Studie vier mögliche Therapieansätze, in denen wir unter anderem mit dem Ebola-Wirkstoff Remdesivir und dem Malariamittel Hydrochloroquin forschen. Wir gehen davon aus, schon bald schwere COVID-19-Fälle behandeln und die Sterblichkeitsrate reduzieren zu können.

Hätten Sie gedacht, das Virus könnte sich derart ausbreiten?

Wir alle haben die Bilder aus Wuhan gesehen. Als die ersten Fälle in Europa auftauchten, dachte man aber noch, die Ausbreitung unter Kontrolle bekommen zu können. Das Virus hat uns jedoch gezeigt, wie schlecht unsere Gesundheitssysteme auf eine solche Pandemie vorbereitet waren.

Welche Schwächen brachte die Corona-Krise denn speziell in Europas öffentlichen Gesundheitssystemen ans Licht?

Im Gegensatz zu asiatischen Ländern haben wir in Europa teilweise die Fähigkeit verloren, auf Virus-Epidemien zu reagieren, weil wir sie glücklicherweise seit Jahrzehnten kaum erleiden mussten. Wir müssen wieder mehr in öffentliche Gesundheitssysteme investieren, um ausreichend Personal und besser ausgerüstete Krankenhäuser und Altenheime zu haben.

Viele Länder in Europa haben hier in den vergangenen Jahren eher Investitionen reduziert. Mit Blick auf künftige Epidemien müssen wir vor allem präventive Gesundheitsmaßnahmen ausbauen und in die öffentliche Gesundheit investieren. Geringere Luftverschmutzung und Tabakkonsum sowie eine aktivere Lebensweise und Sport machen uns weniger anfällig für Viruserkrankungen im Allgemeinen.

Gerade in Afrika wird die Pandemie nun auf sehr fragile Gesundheitssysteme treffen.

Neben sehr schwachen Gesundheitssystemen hat der afrikanische Kontinent mit weiteren Problemen zu kämpfen, welche die Verbreitung des COVID-19-Virus noch verschlimmern könnten. Die hygienischen Verhältnisse in vielen afrikanischen Ländern dürften eine schnellere Ausbreitung der Epidemie begünstigen. Vor allem in Slums und extrem armen Regionen gibt es nur selten Zugang zu sauberem Wasser, was Schutzmaßnahmen wie häufiges Händewaschen praktisch unmöglich macht.

Auch ist die soziale Distanz vielerorts aufgrund der Lebensverhältnisse und Bevölkerungsdichte kaum möglich. Von strikten Lockdown-Schutzmaßnahmen wie in Asien oder Europa ganz zu schweigen. Millionen Afrikaner sind darauf angewiesen, täglich auf der Straße, auf Märkten und generell im öffentlichen Raum Geld zu verdienen, um überhaupt überleben zu können.

Sollte sich das COVID-19-Virus in Afrika explosionsartig ausbreiten, müssen die afrikanischen Regierungen sehr strategisch und behutsam die Corona-Schutzmaßnahmen anwenden, da es sonst zu großen Hungersnöten und Armut kommen könnte.

In Lateinamerika dürfte die Situation ähnlich aussehen. Wie ist man hier gegen die Pandemie aufgestellt?

Sehr unterschiedlich. Einige Länder wie Panama verfolgen einen sehr strikten Lockdown und sind gut vorbereitet. In anderen südamerikanischen Staaten ist man aufgrund politischer Debatten und Meinungsverschiedenheiten noch nicht sehr weit.

Ich hoffe, dass sich die lateinamerikanischen Staaten gut vorbereiten, nachdem sie gesehen haben, was selbst in Europa und in den USA mit vergleichsweise gut ausgebauten Gesundheitssystemen passiert ist.

Gibt es Länder, deren Gesundheitssysteme besser auf die Pandemie vorbereitet waren als andere?

Das werden wir noch analysieren müssen. Generell ist die Frage aber schwer zu beantworten, weil die Epidemie die Länder in unterschiedlicher Weise überkam. Neben der demografischen Situation spielt auch die Form, in welcher sich das Virus im jeweiligen Land verbreitete, eine große Rolle.

In Ländern wie Italien und Spanien, wo das Virus zunächst in großen Ballungszentren wütete, kamen die Gesundheitssysteme hier schnell an ihre Grenzen. In Ländern wie Deutschland, wo sich das Virus breiter verteilte, kollabierte das Gesundheitssystem nicht, auch wenn Deutschland nun zunehmend Probleme in den Altenheimen bekommt.

War das öffentliche Gesundheitssystems in Deutschland Ihrer Meinung nach gut gegen diese Pandemie gewappnet?

Deutschland hat im Vergleich zu anderen Ländern relativ wenige COVID-19-Opfer zu beklagen. Das liegt einerseits an der enorm hohen Zahl an Intensivstationsplätzen. Andererseits hat die deutsche Regierung sehr schnell und koordiniert reagiert.

Zudem befolgten Politik wie Bevölkerung sehr rigoros die Ratschläge der Experten. Das hat viel ausgemacht. Natürlich hatte man in Deutschland aber auch mehr Zeit als beispielsweise in Italien, um Maßnahmen zu ergreifen.

Haben Deutschland und die internationale Staatengemeinschaft gerade zu Beginn der Epidemie ausreichend auf die Ratschläge der WHO gehört?

Mit dem Wissen, das wir heute haben, wäre es nicht gerecht, das Verhalten einzelner Regierungen von vor Monaten zu kritisieren. Davon abgesehen, dass wir von der WHO niemals den Staaten zu extremen Maßnahmen wie Lockdowns geraten haben, wäre es selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerst schwergefallen, bei nur wenigen Hundert COVID-19-Fällen gleich zu Beginn der Epidemie die Wirtschaft und das soziale Leben derart in Deutschland runterzufahren.

Situationen wie in Wuhan mit einer totalen Isolation und Kontrolle der Bevölkerung waren vor allem in unserer Gesellschaft in Europa nur schwer vorstellbar. Nie zuvor wurden global solch drastische, gesundheitsbedingte Ausgangsbeschränkung verhängt. Der halbe Planet im Lockdown.

Dafür brauchten wir eine Art mentalen Assimilationsprozess und eine psychologische Vorbereitungsphase. Andererseits entwickelte sich die Epidemie ja auch weiter. Dabei muss ebenfalls die WHO aus ihren Fehlern lernen. Wir hätten noch deutlicher Alarm schlagen müssen. Ich selber hätte auch nicht mit einem solchen Tsunami gerechnet.

Ein Tsunami, der auf dem internationalen Markt einen regelrechten Krieg zwischen den Ländern im Kampf um Schutzmasken, Schnelltests und medizinischem Material auslöste. Die UN sah sich sogar gezwungen, öffentlich globale Solidarität einzufordern.

Das ist eine Lektion, die wir aus dieser Krise lernen sollten. Internationale Zusammenarbeit und Koordination hätten gerade innerhalb der Europäischen Union zu mehr Effektivität bei der Anschaffung des Materials geführt sowie hohe Preise, Betrug und den Einkauf von defektem Material verhindern können.

Fehlendes und defektes Schutzmaterial haben weltweit zur massenhaften Infektion von Ärzten mit COVID-19 geführt.

Zahlen, die schmerzen. Ärzte leiden derzeit nicht nur darunter, dass viele Patienten und Kollegen sich mit dem COVID-19-Virus infizieren und sterben, sondern sie leiden auch, weil sie das Gefühl haben, dem Virus am Arbeitsplatz selber schutzlos ausgeliefert zu sein.

Bei vielen Ärzten werden wir posttraumatischen Stress feststellen, sobald die Krise und der Arbeitsdruck abnehmen. Zumal es vielen Ärzten während der Krise schwerfällt, psychologische Hilfe anzunehmen, weil sie sich selber in der Rolle des Helfers sehen. Auch hieraus sollten wir für die Zukunft lernen.

Bisher galt es unter Ärzten oftmals als heldenhaft, selbst mit grippalen Erkrankungen noch zur Arbeit zu kommen. Damit muss Schluss sein.

Die Krise nimmt nun in vielen Ländern ab. Über den optimalen Weg aus dem Lockdown wird jedoch gestritten. Wie lautet der Ratschlag der Weltgesundheitsorganisation?

Der Weg sollte auf jeden Fall langsam und schrittweise sein. Das haben, glaube ich, aber auch alle Länder verstanden. Es sollte bedacht werden, dass die Gesundheitssysteme und Krankenhäuser personell wie materiell für eine mögliche zweite Welle gerüstet sind, die epidemiologische Kontrolle gesichert und eine Strategie ausgearbeitet ist, wo und wie massiv auf COVID-19 getestet werden kann.

Dabei sollten Kommunikationswege ausgearbeitet sein, welche die Menschen mit klaren Informationen versorgen. Es darf keine Mehrdeutigkeiten geben, welche die Bevölkerung in ihrem Verhalten verunsichert. Denn das Verhalten und die Beteiligung der Bevölkerung sind maßgebend dafür, dass der Weg aus dem Lockdown gelingt und es zu keinen weiteren, schweren Infektionswellen kommt.

Welche Lehren sollten wir aus der Corona-Krise ziehen, damit uns eine Virus-Epidemie nicht erneut derart überrollt?

Im 21. Jahrhundert klingt es fast unglaublich – regelmäßiges Händewaschen. Das ist die effektivste Maßnahme, auch mit Blick auf andere Durchfall- und Atemwegserkrankungen. Die soziale Distanz und der verstärkte Schutz der Altenheime sind bei einem Ausbruch einer neuen Epidemie nicht weniger wichtig.

Mit Blick auf die Kliniken: Ärzte mit den geringsten Virus-Symptomen sollten sofort zu Hause bleiben, auch wenn ein personeller Engpass herrscht, und die Krankenhäuser müssen normale Patienten und Virus-Infizierte noch stärker räumlich voneinander trennen.

Die aktuelle COVID-19-Krise sollte uns zudem zeigen, dass es noch wichtiger als je zuvor ist, mehr in die öffentlichen Gesundheitssysteme und in die Forschung zu investieren.

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