Hintergrund
Was ist Priorisierung und wie könnte sie umgesetzt werden? Bürger üben den Ernstfall
20 Lübecker beschäftigten sich an vier Wochenenden mit Priorisierung. Dabei zeigte sich, dass das Thema die Menschen nicht schreckt. Das Bürgervotum soll eine gesellschaftliche Diskussion anstoßen.
Veröffentlicht:Welche Prioritäten sollten in der medizinischen Versorgung gesetzt werden? Erstmals hat sich eine zufällig zusammengesetzte Gruppe von Menschen mit diesem Thema befasst und damit wertvolle Hilfe für eine breite gesellschaftliche Diskussion gegeben.
Florian Mundt ist 20 Jahre jung und strebt ein Studium an. Margot Wolters ist 76 Jahre alt und war Justizangestellte. Stephan Schröder ist 39 Jahre und Küchenchef. Die drei Menschen kannten sich vor wenigen Wochen noch nicht und hatten nur eines gemeinsam: Sie wohnen in Lübeck. Inzwischen kennen sich die drei recht gut, genauso wie 15 weitere, zuvor unbekannte Menschen. Sie alle sind gemeinsam an vier aufeinander folgenden Wochenenden in Klausur gegangen, um sich mit dem für sie neuen Thema Priorisierung in der medizinischen Versorgung auseinander zu setzen und dazu ein Bürgervotum abzugeben.
Damit hat sich erstmals in Deutschland eine Gruppe von Bürgern mit einem Thema beschäftigt, das in Fachkreisen immer wieder heftig diskutiert und von der Politik vermieden wird. Mit-Initiator Professor Heiner Raspe von der Universität Lübeck hofft, damit den Startschuss für eine breite gesellschaftliche Diskussion geben zu können. Er verwies bei der Präsentation der Ergebnisse auf den Nachholbedarf, den Deutschland gegenüber nordischen Ländern wie Schweden, Norwegen und Dänemark hat. Die Diskussion in Deutschland beginne "mit bemerkenswerter Verspätung", kritisierte Raspe.
Die für die Projektarbeit ausgelosten Menschen haben sich mit der Thematik nie zuvor auseinander gesetzt. Die wichtigsten Ergebnisse: Das Thema schreckt die Menschen nach sorgfältiger Diskussion nicht ab, sondern schafft nach ihren Erfahrungen Transparenz und damit Vertrauen in das Gesundheitssystem. Priorisierung beruht nach ihrer Einschätzung auf Grundwerten wie Menschenwürde, Gleichheit, Solidarität, Bedarf, Effizienz, Information, Transparenz und Selbstbestimmung. Der Menschenwürde haben sich alle anderen Grundwerte unterzuordnen. Menschen, die sich nicht selbst vertreten können, wollen sie vor Benachteiligung geschützt wissen. Als Kriterien für eine Priorisierung haben die 18 Bürger Lebenserhaltung und Dringlichkeit der Behandlung, bedarfsgerechte Verteilung, Wartezeit, Patientenwille, Lebensqualität, Kosteneffizienz, Innovation und Fortschritt in der Medizin sowie Nachweisbarkeit der Wirksamkeit ausgemacht. Kontrovers wurden die Kriterien Eigenverantwortung und Selbstverschulden, familiäre Fürsorge und Berufsfähigkeit in der Gruppe diskutiert. Das kalendarische Alter, der soziale Status und der Beruf sind nach Auffassung dieser Gruppe keine Kriterien, die bei einer Priorisierung berücksichtigt werden sollten.
Nun wünscht sich die Gruppe ein nationales Gremium, das sich mit den gleichen Fragen beschäftigt, Grundwerte und Kriterien zur Priorisierung diskutiert und feststellt. Als Vertreter in diesem Gremium sehen sie Verbände, Kammern und Krankenversicherungen, aber auch Bürger sollten sich beteiligen.
Die Einflussnahme von Lobbyisten und medizinischer Industrie wollen sie kontrolliert sehen. Um Eigenverantwortung zu fördern, halten die Bürger Anreize für eine persönliche Gesundheitsvorsorge und eine gesunde Lebensweise für sinnvoll.
Der Weg zu den Ergebnissen war mühsam, wie Beteiligte bei der Präsentation verrieten. Wie komplex die ihnen auferlegte Aufgabe war, wurde spätestens bei der Diskussion von Fallbeispielen deutlich. Die Bürger bekamen zum Beispiel den Auftrag, aus vier geschilderten Einzelschicksalen eine Person auszuwählen, die als erste ein künstliches Hüftgelenk erhält. "Zunächst hat man schnell aus dem Bauch heraus entschieden. Je mehr man über die Hintergründe erfuhr, desto schwerer fiel die Entscheidung", berichtete Teilnehmer Stefan Jack. Die Gruppe spürte bei der Diskussion solcher Beispiele, dass sie Kriterien benötigt, um eine Entscheidung treffen zu können. Zugleich wurde ihnen nach Beobachtung von Moderator Jens-Peter Dunst deutlich, welche Verantwortung damit verbunden ist und unter welchem Druck Ärzte bei diesen Fragen stehen.
Ihre Ergebnisse versteht die Gruppe als Votum, mit dessen Hilfe eine breite Debatte angestoßen werden könnte, etwa in Form weiterer Bürgerkonferenzen in anderen Regionen. Fest steht, dass die Ergebnisse aus Lübeck nicht nur zur Kenntnis genommen werden. Im Rahmen eines wissenschaftlichen Symposiums im Herbst sollen sie aus dem Blickwinkel verschiedener Disziplinen kommentiert werden.
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