Interview mit BfArM-Chef Professor Karl Broich
„Wir setzen uns wieder an die Spitze“
Einer der Kernpunkte im am Donnerstag im Bundestag beschlossenen „Digitale-Versorgung-Gesetz“ (DVG) sind die Apps auf Kassenrezept. Über Möglichkeiten für Ärzte, Gefährdungen beim Datenschutz und Anforderungen der Aufsicht an Apps als Medizinprodukte sprach die „Ärzte Zeitung“ mit BfArM-Chef Professor Karl Broich.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Professor Broich, nach Verabschiedung des DVG im Bundestag, Ihre Prognose: Wann gibt’s die erste App auf Rezept?
Professor Karl Broich: Wir gehen davon aus, dass wir gegen Ende des zweiten Quartals 2020 die erste Gesundheits-App sehen werden. Das ergibt sich daher, dass wir als BfArM drei Monate Zeit für die Bewertung der Anträge auf Aufnahme einer App in das Verzeichnis der digitalen Gesundheitsanwendungen haben. Gerade zu Beginn wird es sicher auch noch Nachfragen seitens BfArM, aber auch der Hersteller geben, denn natürlich werden wir die Apps nicht einfach durchwinken.
Dem BfArM kommt hier eine ganz entscheidende Rolle zu. Wie sind Sie vorbereitet?
Broich: Mit Blick auf unsere Aufgaben im Zusammenhang mit dem DVG ist zu sagen, dass wir uns ja schon seit langem mit dem Thema Digitalisierung auseinandersetzen. Das Thema „Medical Apps“ haben wir seit Jahren im Fokus, auch bei Fragen nach dem konkreten Nutzen der Anwendungen oder wie wir die Spreu vom Weizen trennen können. Es gibt einen intensiven und etablierten Dialog, z.B. zwischen unserer Abteilung Medizinprodukte, unserem Innovationsbüro, das diesen Prozess sehr eng begleitet, dem Health Innovation Hub und allen weiteren Akteuren in diesem Umfeld. Konkret wird unsere Expertise in diesem Bereich jetzt noch durch vier weitere Stellen ergänzt. Wir sind also vorbereitet, wenn es Anfang 2020 losgeht.
Was ist das Wichtigste, was verschreibende Ärzte wissen müssen?
Broich: Es gibt bei Ärzten natürlich große Unsicherheiten. Das versuchen wir abzufedern, unter anderem über Informationsveranstaltungen. Zudem stellen wir auf unserer Website Fragen und Antworten zusammen, die das ganze Verfahren und unsere Ziele darlegen. Und wir werden dann auch ausführlich darauf eingehen, welche Produkte in das Verzeichnis kommen. Auch um die Indikationen geht es. Es wird teilweise mehrere Apps im Verzeichnis geben, die für eine Indikation gedacht sind, zum Beispiel im Bereich Diabetes. Da müssen wir die unterschiedlichen Ansatzpunkte und Ziele der Apps herausarbeiten. Auch der Preis dahinter soll sichtbar sein, damit die Ärzte sich entscheiden können und auch die Patienten umfassend informiert sind.
Wie erfahren Versicherte von verschreibungs- und erstattungsfähigen Apps?
Broich: Auf unserer Website werden wir sowohl patientenorientierte Informationen als auch spezifische Informationen für die Fachkreise vermitteln – und diese auch im engen Austausch mit den Beteiligten kontinuierlich anpassen und ergänzen. Uns ist sehr bewusst, dass wir im Januar noch keine Ideallösung am Start haben werden, mit der auf einen Schlag alle Fragen gelöst sind. Das geplante Verfahren ist eben etwas, das es bisher in der Form so noch nicht gibt, daher werden wir hier auch neue Erfahrungen sammeln.
Unser Ziel ist es, einen pragmatischen Ansatz zu schaffen – mit dem politischen Willen des Ministers, für die Patienten etwas auf den Weg zu bringen. Es ist gut, dass jetzt Dynamik in diesen Markt kommt.
Gibt es denn so etwas wie eine „Anleitung“ für Betreiber und für Entwickler der Gesundheits-Apps?
Broich: Wir haben schon vor drei Jahren eine „Orientierungshilfe Medical Apps“ herausgegeben, die beschreibt, wann eine App zum Medizinprodukt wird. Das Interesse an diesen Informationen war und ist enorm. Mit Blick auf das DVG haben wir schon mehr als 400 Start-ups, aber auch Ärzte und Versicherer, über die Rahmenbedingungen des DVG informiert.
Viele warten jetzt auf den konkreten Verordnungsentwurf und den ergänzenden Leitfaden des BfArM, um dann in eine finale Beratung mit uns zu gehen und anschließend einen Antrag zu stellen. Wir nehmen diesen Informationsbedarf sehr ernst und gehen aktiv auf die Interessenten zu. So sind wir zum Beispiel auch in diesem Jahr wieder auf der Medica vertreten.
Es gibt ja ungezählte Gesundheits-Apps. Kommen wir einmal von der anderen Seite: Für welche Anwendungen würden Sie es von vornherein ausschließen, dass sie es in Ihr Verzeichnis schaffen?
Broich: Ganz klar: Apps ohne CE-Kennzeichnung kommen nicht in Betracht. Das wird die Spreu vom Weizen in einem ersten Schritt trennen. Zu dieser CE-Kennzeichnung des Medizinproduktes kommen dann die Anforderungen an (Daten-)Sicherheit, Funktionstauglichkeit und Qualität der digitalen Gesundheitsanwendung, die die Mindestvoraussetzungen für eine vorläufige Aufnahme darstellen.
Stichwort Medizinprodukte: Die Anforderungen hängen eng mit den Risikogruppen zusammen. Der Gesetzgeber sieht zunächst nur Apps der Risiko-Klassen I oder IIa vor. Was ist mit Systemen, für die es einen Arztvorbehalt gibt – etwa bei Closed- Loop-Systemen. Sind die völlig raus?
Broich: Wichtig ist, dass wir jetzt, wie vom Gesetzgeber vorgesehen, loslegen, bei Klasse I und IIa Erfahrungen sammeln und das System „fast track“ etablieren. Komplexere Systeme, wie die von Ihnen angesprochenen Closed-Loop-Systeme, fallen in die etablierten Methodenbewertungsprozesse des GBA. Wie dieser Prozess sich für digitale Medizinprodukte höherer Risikoklassen weiterentwickeln wird, ob das BfArM hier beispielsweise „Vorarbeiten“ einer fachlichen Bewertung übernimmt, wie es das IQWiG heute bei Arzneimitteln macht, wird sich zeigen.
Sind das dann eigentlich wirklich nur „Spaß-Apps“, wie manche es leicht despektierlich nennen?
Broich: Immer wieder werden wir in diesem Kontext auch gefragt: Wie zeigt Ihr, dass die Apps wirklich Versorgungsrelevanz haben? Aber muss man für Klasse-I-Produkte, die keine großen Risiken bergen, klassische Phase-III-Studien wie bei Arzneimitteln einfordern? Das wäre aus meiner Sicht deutlich übers Ziel hinausgeschossen. Das kann sich für den Hersteller nicht mehr rechnen.
Bei einem Closed-Loop-System oder bei kardiovaskulären Assist-Systemen sieht das anders aus. Wir werden auch schon in wenigen Jahren sehen, dass wir ein Arzneimittel, ein Medizinprodukt und eine App zusammen zulassen, als Konglomerat für ein ganzheitliches Therapieregime. Das geht dann weit über die bisherige klassische Arzneimittelzulassung hinaus. Darauf bereiten wir uns hausintern schon heute vor.
Wir werden da unter anderem mit unserer Expertise über das Innovationsbüro sehr früh mit den Entwicklern in die wissenschaftliche Beratung einsteigen, damit wir solche Systeme dann ebenfalls beschleunigt zum Patienten bringen.
Ist die Grenze zwischen IIa und III in jedem Fall klar zu ziehen?
Broich: Diese Grenze ist ja durch den Gesetzgeber bereits klar gezogen. Manche Hersteller versuchen, noch in das System niedriger Risikoklassen hineinzukommen, obwohl sie eigentlich in eine höhere Klasse gehören. Natürlich werden wir da sehr genau hinschauen, denn es geht dabei um Glaubwürdigkeit. Wir sprechen hier letztlich von einem lernenden System, durchaus vergleichbar mit dem Verfahren, wie wir es zu Beginn des AMNOG hatten.
Was passiert mit bereits vorhandenen und in der Routine erprobten Apps? Müssen sie ebenfalls ihren Nutzen in einer zusätzlichen Evaluation nachweisen?
Broich: Die Regeln gelten für die neuen wie auch für bereits verfügbare Apps. Die Aufnahme in das Verzeichnis der digitalen Gesundheitsanwendungen erfolgt auf Antrag des Herstellers - und in diesem Antrag muss die Erfüllung der Anforderungen nachgewiesen werden.
Und den Nutzen nochmals zeigen?
Broich: Wer den Nutzen schon einmal nachgewiesen hat, der muss ihn bei der Einreichung des Antrags nicht noch einmal neu zeigen. Damit ist dann auch das Risiko, im ersten Jahr nach der Aufnahme in das Verzeichnis keine positiven Versorgungseffekte nachweisen zu können, sehr gering. Aber auch hier bieten wir Beratung an, damit die Anforderungen an die CE-Zertifizierung und nach dem DVG frühzeitig adäquat ohne großen Mehraufwand im Entwicklungsprozess adressiert werden können.
Zurück zu den Ärzten: Die befürchten Eingriffe in ihre Therapiefreiheit, wenn auch K rankenk assen genehmigte Apps an Versicherte weitergeben. Auf dem bayerischen Ärztetag haben die Delegierten sich dagegen ausgesprochen. Sie sind ja auch Arzt, teilen Sie die Sorge?
Broich: So apodiktisch kann man das nicht sagen, gerade bei Produkten der Klassen I und IIa. Die sind ja eher therapiebegleitend, sie greifen nicht in die Therapie ein. Im Zusammenhang mit der Therapieentscheidung kommt dem Verhältnis zwischen Arzt und Patient weiterhin größte Bedeutung zu. Dieses Verhältnis kann und will niemand unterbinden. Das zeigt sich insbesondere, wenn es um Apps mit höheren Risikokategorien geht …
... Stichwort Arztvorbehalt!
Broich: Ja, da greift der Arztvorbehalt, und da ist er auch richtig. Es wäre abwegig, wenn die Kasse sagt, ich will aus Kostengründen dieses Closed-Loop-System und nicht ein anderes.
Das BfArM
- Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist die deutsche Behörde für die Zulassung von Arzneimitteln, sowie die Risikoerfassung und -bewertung von Medizinprodukten.
- Die Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesgesundheitsministeriums ist 1994 aus dem früheren Bundesgesundheitsamt hervorgegangen.
- Das Institut beschäftigt in Bonn rund 1100 Mitarbeiter. Den Einnahmen aus Gebühren in Höhe von rund 72 Millionen Euro stehen in diesem Jahr Ausgaben von etwa 89 Millionen Euro gegenüber.
Anderes Thema, die Haftung: Bei Arzneiverordnungen ist das Haftungsrisiko klar geregelt. Tragen Ärzte, die eine App verordnen, in irgendeiner Form Verantwortung für Datensicherheit und Datenschutz?
Broich: Dass die Anforderungen an den Datenschutz und die Datensicherheit eingehalten werden, liegt in der Verantwortung des Herstellers. Er muss das schon bei der Einreichung der Antragsunterlagen sicherstellen und nachweisen. Gerade auf diesen Punkt hat der Gesetzgeber besonderen Wert gelegt – denn dass der Datenschutz ein besonders sensibles Thema ist, wissen wir nicht erst seit der Diskussion um die vermutlichen Datenweitergaben bei der App Ada Health.
Wie tief gehen Sie bei der Prüfung denn rein in die Technik?
Broich: Die Details werden letztlich im Verordnungsentwurf bestimmt. Wir stehen aber bereits etwa mit Datenschutzexperten in engem Austausch und diskutieren das Vorgehen gemeinsam. Fest steht, dass wir größtes Augenmerk auf dieses Thema legen.
Wirft der Fall Ada Health bei all den Vorbehalten, die es wegen Datensicherheit gibt, die Diskussion um Digitalisierung nicht um Jahre zurück?
Broich: Die Gefahr besteht. Es wird auch immer wieder gesagt, dass die Initiative über das DVG verfrüht ist, dass eine eigene Behörde zu schaffen wäre. Aber dann sind wir in zehn Jahren immer noch nicht weiter, das kann nicht der Weg sein.
Also gibt es doch kein Problem bei der Datensicherheit?
Broich: Apps, hinter denen Geschäftsmodelle stecken, nach denen die Nutzer beispielsweise in den ärztlichen Empfehlungen nur Allgemeinplätze lesen, dann aber Schmerzmittel-Werbung oder Hinweise auf Stützkorsetts erhalten, wollen wir bei den Apps auf unserer Liste nicht haben. Hier geht es um unsere Reputation genauso wie um die Reputation des Systems, und da werden wir die Standards entsprechend hochhalten.
Ganz banale Frage: Wird es eigentlich ein neues Formular für die Verordnung von Apps geben?
Broich: Das soll erst einmal über das normale Kassenrezept laufen. Und im Laufe des nächsten Jahres auch über das E-Rezept. Im Zuge all dieser Digitalisierungsprozesse kommt auch der Synergieeffekt mit der Eingliederung des DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, d. Red) ins BfArM gut zum Tragen.
Auf der einen Seite werden wir die Gesundheitsdaten des DIMDI nutzen, aber wir bekommen auch die Expertise der Datenanalysten des Instituts. Für uns überwiegen da ganz klar die Chancen dieser Eingliederung, auch wenn wir die Skepsis verstehen, etwa, wenn es um die medizinischen Klassifikationssysteme wie ICD-10 mit Übergang in die ICD-11 oder die OPS-Codes geht. Die wollen wir spezifisch sogar stärker fördern und das DIMDI sichtbarer machen in diesen Aufgaben.
Finden Ärzte verordnungsfähige Apps in Zukunft wie Medikamente in ihrer Praxis-IT?
Broich: Es wird sich zeigen, wie diese Liste im Detail verfügbar gemacht wird. Aber:Wenn wir schon digital sein wollen, dann sollten wir natürlich Medienbrüche vermeiden.
... und, mit leichtem Augenzwinkern: Gibt es vielleicht sogar die Möglichkeit, Aut-idem-Kreuzchen zu setzen?
Broich: Ob jetzt ein Diabetes-Tagebuch besser ist als das andere? Da macht aut idem auf den ersten Blick sicher keinen Sinn. Wenn wir an den Versorgungsdaten aber sehen, hier ist etwas passiert, und dort ist nur leichtes Rauschen, dann könnte ein gesetztes Qualitätsmerkmal die Lösung sein, an dem sich die Ärzte orientieren können. Ob das dann direkt in Richtung aut idem gehen könnte, ist die Frage. Im Moment ist es nicht vorgesehen.
Was sind jetzt die nächsten konkreten Schritte?
Broich: Mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfs im Bundestag können wir zunächst die Fragen und Antworten auf unserer Website vervollständigen. Wir planen derzeit auch schon Informationsveranstaltungen, um transparent über Anforderungen und Kriterien zu informieren.
Das Dreieck mit Ministerium, Health Innovation Hub und uns funktioniert sehr gut, der GBA ist mit einbezogen. Auch der GKV-Spitzenverband hat sich schon bei uns gemeldet.
Mir ist wichtig, dass wir uns mit dem DVG wieder an die Spitze der Bewegung setzen können. Wenn wir jetzt zehn Jahre warten würden, bleibt die Welt in den USA oder in China nicht stehen und es werden Standards geschaffen, die unseren nicht entsprechen. Insofern können wir wirklich zufrieden sein, dass wir jetzt loslaufen und unseren eigenen Weg suchen.
Prof. Dr. Karl Broich
- Aktuelle Position: Seit 2014 Präsident des BfArM; seit 2013 Honorarprofessor an der Medizinischen Fakultät der Uni Bonn
- Ausbildung: Studium der Humanmedizin in Bonn; 1985-1993 Weiterbildung zum Facharzt für Nervenheilkunde sowie Psychotherapie; 2002 Dozent und Supervisor für Verhaltenstherapie
- Karriere: 1985-1993 Wissenschaftlicher Assistent an den Kliniken für Neurologie und Psychiatrie, sowie Psychiatrie und Psychotherapie, Uni Bonn; 1990-1991 Forschungsaufenthalt mit nuklearmedizinischem Thema in Philadelphia, USA; 1993-2000 Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Halle-Wittenberg; 2000-2009 Fachgebietsleiter Neurologie/Psychiatrie beim BfArM, später Leiter der Abteilung Zulassung 4; 2009-2014 BfArM-Vizepräsident