Orphan Drugs
"Wir wissen verdammt wenig über diese Arzneimittel"
Orphan Drugs schaffen neue Therapiemöglichkeiten bei Patienten mit seltenen Erkrankungen. Ihr Status bringt ihnen aber auch Kritik ein.
Veröffentlicht:BERLIN. Krankheiten werden nicht mehr so eindimensional aufgefasst, wie das in der Vergangenheit oft der Fall war. Die fortschreitende Entschlüsselung des menschlichen Genoms sorgt für eine differenziertere Betrachtung einzelner Krankheitsbilder, aber auch für neue Therapien.
In Berlin haben sich auf Einladung der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (Achse) und des Verbands der forschenden Pharmaindustrie (vfa) Fachleute getroffen, um über die sich daraus ergebenden Entwicklungen zu diskutieren. Eine entscheidende Frage dabei war: Wie geht man mit den Arzneimitteln um, die nur verhältnismäßig kleinen Patientenpopulationen zugute kommen können, den Orphan Drugs?
Nutzenbewertung umgehen?
Der Vorwurf steht im Raum, die Pharmaindustrie definiere künstlich Subpopulationen, um damit die Nutzenbewertung nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) zu umgehen.
Der Vertreter der Krankenkassen sah dies entspannt. Von einer "Orphanisierung" des Arzneimittelmarktes lasse sich nicht sprechen, sagte der Vorstandsvorsitzende der DAK Gesundheit, Professor Herbert Rebscher. Bislang gebe es erst für 70 als selten klassifizierte Krankheiten zugelassene Arzneimittel. "Wir müssen diese Mittel in die Versorgung bringen mit dem Ziel, Evidenz zu schaffen", sagte Rebscher. Eine frühe Nutzenbewertung sei mangels Therapiealternativen ohnehin nicht möglich.
Rebscher, sprach sich für eine Verankerung der Orphan Drugs im Morbi-RSA aus. Die oft hohen Therapiekosten für Menschen, die an seltenen Krankheiten litten, sollten gleichzeitig durch einen Hochrisikopool aufgefangen werden, sagte Rebscher.
Arzneimittel genauer beobachten
Der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, Professor Wolf-Dieter Ludwig, mahnte eine genauere Beobachtung dieser Gruppe von Arzneimitteln an. "Wir wissen verdammt wenig über diese Arzneimittel", sagte Ludwig. Dies wollte er allerdings nicht als Vorwurf verstanden wissen.
Für mehr Anreize für Unternehmen, Orphan Drugs überhaupt zu entwickeln, warb Christoph Nachtigäller, Vorsitzender des Achse. "Nicht die Orphanisierung ist das Problem, sondern die fehlenden therapeutischen Möglichkeiten", ergänzte Dr. Andreas Reimann, sein Stellvertreter. Das Zuschneiden von Therapien auf kleine Indikationssubgruppen sei ein Vorteil für die Patienten.
Die Europäische Zulassungsbehörde (EMA) hat einen eigenen "Ausschuss für Arzneimittel für seltene Leiden" (COMP) geschaffen. Darauf verwies Dr. Frauke Naumann-Winter vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Den Status als Orphan Drug könnten in der EU nur Medikamente erhalten, wenn die damit zu therapierende Krankheit bei höchstens fünf von 10.000 Bewohnern auftrete.
Anforderungen unabhängig von Häufigkeit der Krankheit
Die Orphan Drugs würden nicht durchgewunken, betonte Martina Ochel, stellvertretende Vorsitzende von vfa-bio. "Es gibt keine Abstriche bei den Anforderungen für die klinische Erprobung und die Zulassung im Vergleich zu anderen Medikamenten", sagte Ochel. Diese Anforderungen seien unabhängig von der Häufigkeit einer Krankheit.
Das Zulassungsverfahren sei auch nicht schneller, oft komme es zu umfangreichen Nachzulassungsauflagen. Die Hersteller dieser Wirkstoffe könnten ihre Produkte nicht eigenmächtig in den deutschen Markt drücken. Auch für Orphan Drugs müssten die Unternehmen Dossiers beim Gemeinsamen Bundesausschuss einreichen, sagte Martina Ochel, stellvertretende Vorsitzende des vfa-bio. Auch um die Verhandlungen mit den Kassen über den Erstattungsbetrag kämen sie nicht herum.
Die ökonomischen Auswirkungen der Therapien für seltene Erkrankungen auf die gesetzliche Krankenversicherung schätzte Ochel als gering ein. Sie rechnete vor, dass rund zwei Drittel der derzeit in Europa zugelassenen Orphan Drugs weniger als zehn Millionen Euro Jahresumsatz erzielten. Sie seien für lediglich drei Prozent der GKV-Arzneimittelausgaben verantwortlich, was rund 840 Millionen Euro im Jahr bedeute.
Man müsse nicht bei jeder Identifikation eines neuen Krankheitsbildes damit rechnen, dass dafür ein neues Medikament entwickelt werden müsse, sagte Professorin Annette Grüters-Kieslich, Dekanin der Berliner Charité.
Dennoch bedürfe es neuer Formen der Zusammenarbeit zwischen Pharmaindustrie und universitärer Forschung, um eine schnellere Entwicklung von Arzneimitteln zu gewährleisten, sagte Grüters-Kieslich. Der Weg aus der Forschung in die Versorgung sei "irrsinnig lang".