Gesundheitskompetenz stärken
Zuhörende Medizin wird in Zukunft wichtiger
Sich im komplexen Gesundheitswesen zu orientieren, überfordert viele Bürger. Die Regierung will daher ein nationales Gesundheitsportal auflegen. Ärzten wird dabei eine wichtige Rolle zugedacht.
Veröffentlicht:BERLIN. Mit informierten Patienten haben Ärzte angeblich Probleme, wenn man einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung und der Barmer glaubt.
„Die Hälfte der Ärzte findet es problematisch, wenn sie auf informierte Patienten trifft“, fasste Alexander Schmidt-Gernig vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) bei einer Tagung in Berlin zum Thema „Gesundheitskompetenz – Eigenverantwortung oder gesellschaftliche Aufgabe?“ ein Ergebnis der Studie zusammen.
Der Hintergedanke dabei: Das vermeintliche Wissen, dass Patienten vor allem aus dem Internet beziehen, schüre unangemessene Erwartungen.
Fehlende Nutzerfreundlichkeit
Kein Wunder, denn viele Informationen zu Gesundheitsthemen sind nicht nur heterogen in ihrer Qualität, sondern liegen oft auch in einer wenig nutzerfreundlichen Form vor.
Dies und die bislang ungenügende Vorbildung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen auf dem Gebiet Gesundheit führt dazu, dass mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland über keine ausreichende Gesundheitskompetenz verfügt. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung der Universität Bielefeld.
Dass dies keine Petitesse ist, darauf wies Professor Jürgen Pelikan von der Gesundheit Österreich GmbH bei der gemeinsamen Veranstaltung von Verband der Ersatzkassen (vdek), Kneipp Bund und Dachverband Anthroposophische Medizin in Deutschland hin.
Personen mit niedriger Gesundheitskompetenz würden häufiger hospitalisiert, bräuchten mehr Notfallbehandlungen und wendeten unter anderem Medikamente nicht richtig an.
„Mit mehr Gesundheitskompetenz könnte man im Gesundheitswesen Geld sparen“, sagte Pelikan.
Das Potenzial liegt Schätzungen zufolge bei drei bis fünf Prozent der Behandlungskosten, so Alexander Schmidt-Gernig vom BMG. Mangelnde Gesundheitskompetenz sei nicht ein Minderheitenproblem, sondern betreffe viele Bevölkerungsgruppen.
Gesundheitsportal im Aufbau
Als Reaktion darauf hat die Bundesregierung die wichtigsten Verbände ins Boot geholt. Im Vorjahr wurde die Allianz für Gesundheitskompetenz ins Leben gerufen und eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, in der sich die Partner verpflichten, Initiativen zum Thema Gesundheitskompetenz zu starten. Zudem will das BMG Projekte fördern, die wirksame Konzepte zur Gesundheitsbildung versprechen.
„Interessante Ergebnisse“ sollen von den Allianz-Partnern flächendeckend umgesetzt werden. 60 Anmeldungen liefen nach Veröffentlichung der Förderungsbekanntmachung ein.
„Ich fürchte, dass wir nicht genug Geld haben werden für alle“, so Schmidt-Gernig. Im Aufbau befindet sich noch das nationale Gesundheitsportal, das noch in dieser Legislaturperiode starten soll. Geplant ist, dass es nicht nur Patienten, sondern auch Ärzten als vertrauenswürdige Informationsquelle dienen kann.
Das Portal könne eine gute Kommunikationsgrundlage für das Gespräch mit Patienten schaffen, so Schmidt-Gernig.
Ärzte als "Health Advocate"
In Zukunft müssten Ärzte mehr die Rolle des „Health Advocate“ übernehmen, der zusammen mit den Patienten unter Berücksichtigung ihrer Präferenzen Entscheidungen treffe.
Das setze auch bei Ärzten Kommunikationskompetenz voraus, so Schmidt-Gernig. „Wir brauchen vor allem zuhörende, nicht nur sprechende Medizin“, betonte Jürgen Pelikan.
Erhebungen zufolge unterbrechen viele Ärzte ihre Patienten schon 20 Sekunden nach Redebeginn.
Einigkeit herrschte bei der Tagung, dass die Steigerung der Gesundheitskompetenz nicht nur der Eigenverantwortung des Einzelnen überlassen werden kann, sondern eine organisatorische und vor allem gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.
„Niemand sollte ein Krankenhaus verlassen, ohne dass er dort seine Gesundheitskompetenz verbessert hat“, sagte Pelikan.
Und: Der Staat müsse die Bedingungen – wie Lernangebote in Kitas, Schulen und in der Erwachsenenbildung – schaffen, die Eigenverantwortung überhaupt erst ermöglichen. „Nur Appelle an die Bürger zu richten, ist keine gute Strategie.“
Oliver Blatt vom vdek betonte, es gehe nicht nur um die Finanzierung einzelner Fördermaßnahmen. Vorankommen könne man nur, wenn alle Sozialträger zusammenwirken.
Man erreiche nichts, wenn in Kindergärten und Schulen Fortbildung zum Thema Essen angeboten werden, und „nachher die Kinder dort ein Essen bekommen, das jeglichem Grundsatz gesunder Ernährung widerspricht“.