Genehmigungsfiktion
BSG kassiert Anspruch auf Sachleistung bei versäumter Kassenfrist
Bei zu langsamen Entscheidungen der Krankenkassen über Leistungen konnten Patienten bisher von einer „fiktiven Genehmigung“ ausgehen. Nun besteht nur noch ein vorläufiger Anspruch.
Veröffentlicht:Kassel. Die „Genehmigungsfiktion“ bei zu langsam arbeitenden Krankenkassen hat deutlich an Biss verloren. Versäumt eine Kasse die gesetzlichen Fristen zur Bescheidung eines Leistungsantrags, führt dies nach einem aktuellen Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts (BSG) in Kassel nur noch zu einem vorübergehenden Anspruch auf Kostenerstattung. Der bisherige Sachleistungsanspruch entfällt. Fehlen zunächst Geld oder Gelegenheit, sich die Leistung selbst zu beschaffen, geht der Anspruch durch eine spätere Kassenablehnung verloren.
„Der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz gebietet es nicht, mittellosen Versicherten Leistungen zu gewähren, auf die sie nach allgemeinem GKV-Leistungsrecht keinen Anspruch haben“, erklärte das BSG zur Begründung. Dagegen sieht der Sozialverband VdK durch die neue Rechtsprechung das Gleichheitsgebot verletzt. „Wir werden Verfassungsbeschwerde erheben“, erklärte VdK-Präsidentin Verena Bentele in Berlin. Das Urteil sei „versichertenfeindlich“ und „ein Blankoscheck für langsames Arbeiten“.
Seit 2013 müssen die Krankenkassen einen Leistungsantrag innerhalb von drei Wochen bescheiden. Holen sie ein Gutachten des Medizinischen Dienstes ein, sind es fünf, bei Zahn-Leistungen sechs Wochen. Werden diese Fristen ohne wichtigen Grund nicht eingehalten, „gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt“, heißt es im Sozialgesetzbuch.
Diese Regeln hatte das BSG erstmals 2016 betont und danach mehrfach verteidigt und konkretisiert. Bei Fristversäumnis bestand danach ein Anspruch auf Sachleistung oder Kostenerstattung, soweit Versicherte die Leistung für erforderlich halten durften.
Nur noch vorläufiger Anspruch
In neuer Besetzung unter BSG-Präsident Rainer Schlegel gab der zuständige Erste BSG-Senat diese versichertenfreundliche Rechtsprechung nun weitgehend auf. Ein Anspruch auf Sachleistung besteht danach nicht mehr. Vielmehr führt die Genehmigungsfiktion nur noch zu einem „vorläufigen“ Anspruch auf Kostenerstattung, wenn sich der Versicherte die Leistung selbst beschafft hat und zu diesem Zeitpunkt „gutgläubig“ war. Zur Begründung erklärten die Kasseler Richter, nach den Gesetzesmaterialien habe der Gesetzgeber mehr als einen Kostenerstattungsanspruch nicht gewollt.
Nach der neuen Rechtsprechung soll die Kasse auch nach Fristablauf noch eine inhaltliche Entscheidung treffen. Fällt diese negativ aus, geht die Gutgläubigkeit verloren, so dass der Versicherte für später beschaffte Leistungen auch keinen Anspruch auf Kostenerstattung mehr hat, sofern er sich nicht zu einer Klage entschließt, die dann die Rechtskraft der Ablehnung verhindert.
Im konkreten Fall wollte ein Arzt die Gangstörungen eines Patienten mit Kleinhirnatrophie mit Fampridin (Fampyra®) behandeln. Dies ist allerdings nur für Gangstörungen bei Multipler Sklerose zugelassen.
Der Patient probierte das Medikament zunächst auf eigene Kosten aus. Weil es sich bewährte, beantragte sein Arzt für die weitere Behandlung die Kostenübernahme durch die Kasse.
Vorinstanz ging von „fiktiver Genehmigung“ aus
Erst nach fast drei Monaten lehnte die Kasse dies ab. Weil alle Fristen verstrichen waren, war in der Vorinstanz das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz in Mainz noch davon ausgegangen, dass die Behandlung als „fiktiv genehmigt“ gilt.
Diese Entscheidung hob das BSG nun auf. Ein Anspruch auf weitere Kostenübernahme wegen einer „Genehmigungsfiktion“ scheide aus, seitdem die Krankenkasse dies abgelehnt habe. Allerdings soll das LSG Mainz noch prüfen, ob hier aufgrund der allgemeinen Off-Label-Regelungen ein Anspruch besteht.
Damit überhaupt eine Genehmigungsfiktion entstehen kann, muss sich nach einem weiteren Urteil ein Leistungsantrag generell auf eine Sachleistung richten. Im Streitfall wies das BSG eine Versicherte ab, weil sie von vornherein nur eine Kostenerstattung und damit Geld beantragt hatte.
Bundessozialgericht, Az.: B 1 KR 9/18 R (Grundsatzurteil) und B 1 KR 21/19 R (Sachleistungen)