Jubiläum
Das Bundessozialgericht wird 60
Zulassungen, Ermächtigungen, Honorare und Wirtschaftlichkeitsprüfungen - seit 60 Jahren urteilt das Bundessozialgericht (BSG) über Streitfragen der Sozialversicherungen und damit auch über existenzielle Fragen der Ärzte.
Veröffentlicht:Als "Flickenteppich" hat der frühere BSG-Präsident Heinrich Reiter die Sozialgesetze gerne bezeichnet. Seit nunmehr sechs Jahrzehnten setzten sich die obersten Sozialrichter mit den immer wieder neuen Flicken auseinander.
Doch am Donnerstag wird gefeiert. Denn am 11. September 1954 wurde das oberste Bundessozialgericht feierlich in Kassel eröffnet.
Nach Bundesgerichtshof, Bundesfinanzhof, Bundesverwaltungs- und Bundesarbeitsgericht war das BSG damit das letzte der fünf im Grundgesetz verankerten Obersten Gerichtshöfe.
Bis Frühjahr 1945 war für Rechtsstreitigkeiten der Sozialversicherungen noch das Reichsversicherungsamt zuständig.
Dass das BSG und bis 1999 auch das Bundesarbeitsgericht seinen Sitz in Kassel fanden, war wohl als eine Art Trost gedacht. Denn die im Krieg stark zerstörte Stadt hatte sich erfolglos als Bundeshauptstadt und um die "Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung" beworben.
Zusammen mit heute bundesweit 69 Sozial- und 14 Landessozialgerichten ist das BSG zuständig für sämtliche Sozialversicherungen, Elterngeld sowie soziale Entschädigungen, etwa für Impf- und Gewaltopfer.
Seit der Hartz IV-Reform ist die Sozialgerichtsbarkeit auch für die Grundsicherungsleistungen Hartz IV zuständig. Nur über das Kindergeld urteilen die Finanzgerichte.
Viel Arbeit nach der Gesundheitsreform 1992
Als Sondergebiet spielte das frühere Kassen- und heutige Vertragsarztrecht zunächst eine untergeordnete Rolle. Das hat sich erheblich geändert: Immerhin zwölf Prozent der 2013 eingegangenen Revisionen betrafen dieses Gebiet.
Die Adenauersche Rentenreform von 1957, die grundlegende Modernisierung des Arbeitsförderungsrechts 1969 sowie die Hartz-Reformen 2002/2003 waren die wichtigsten Gesetze, die das BSG begleitet hat. Hartz IV führte zu einer zuvor nie dagewesenen Klagewelle.
Für Ärzte brachte die Gesundheitsreform 1992 grundlegende Änderungen: Die Trennung von Primär- und Ersatzkassen wurde eingeebnet. Bei Neuzulassungen war nun insbesondere Schluss mit der begehrten Zulassung nur für die Ersatzkassen.
Der starke Wandel des Gesundheitswesens wird auch in der Frage der Chefarztbeteiligung deutlich. Zunächst waren die Krankenhäuser nahezu automatisch an der ambulanten Versorgung beteiligt.
Längst aber verfügt Deutschland über ein großes Netz niedergelassener Fachärzte. Schon seit den 1980er Jahren fuhren die KVen die Zahl der Ermächtigungen zurück - viele Streitfälle auch beim BSG.
Arzt gegen KV, das ist die übliche Frontenstellung vor dem BSG-Vertragsarztsenat. Seit 2002 werden für diese Verfahren Gerichtskosten fällig. Kassen und KVen streiten sich selten vor Gericht; hier entscheidet häufig eine Schiedsstelle.
Außerhalb des Vertragsarztrechts entwickelte das BSG in den 60er Jahren einen bahnbrechenden Gedanken, der längst zum Allgemeingut zählt: dass Drogen- und Alkoholsucht Krankheiten sind.
Erst dadurch wurden den Sozialversicherungsträgern entsprechende Rehabilitationsmaßnahmen möglich.
Hohe Relevanz der Urteile für Ärzte
Der Kassen- und Vertragsarztsenat bestätigte 1997 die Trennung der ambulanten Versorgung in Haus- und Fachärzte, er verwarf die "rückwirkende Budgetierung" im EBM. Im Folgejahr bestätigte es die Bedarfsplanung und ebenso die frühere Altersgrenze von 68 Jahren als verfassungsgemäß.
Nach einem Urteil aus 2003 ist auch der Risikostrukturausgleich mit dem Grundgesetz vereinbar.
Ein kollektiver Zulassungsverzicht zum führt Honorarausschluss, urteilte das BSG 2007 und 2009. 2010 billigte es Vergünstigungen für Gemeinschaftspraxen, 2012 die gesetzlichen Mindestmengen für Knie-TEPs.
Und immer wieder hat das BSG entschieden, dass anderes Aussehen keine Krankheit ist. Es ließ einen 1,62 Meter kleinen Mann ebenso abblitzen wie eine Frau mit ungleichen Brüsten.
Sein Jubiläum feiert das BSG mit Bundespräsident Joachim Gauck in seinem großen Saal, der im Zuge einer Sanierung 2008 und 2009 in den Innenhof des Gerichts gebaut wurde.
Namensgeberin des Saals ist die Kasseler Juristin und Politikerin Elisabeth Selbert. Als eine der vier "Mütter des Grundgesetzes" hatte sie mit hohem Einsatz für einen kurzen Satz im Grundgesetz gekämpft: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt."
Beim BSG waren Ende 2013 von 43 Richterstellen nur elf von Frauen besetzt.