Bundesgerichtshof

Demente gehören nicht ins Obergeschoss mit ungesicherten Fenstern

Schwere Unfallfolgen begründen eine Sicherungspflicht des Heimträgers, urteilte der Bundesgerichtshof am Donnerstag im Fall eines dementen Heimbewohners, der aus seinem Zimmerfenster gestürzt war.

Martin WortmannVon Martin Wortmann Veröffentlicht:
Demenzpatient am Fenster: Laut BGH müssen Heime eine Gefahrenabwägung vornehmen, wenn zum Beispiel besonders mobile und demente Patienten einquartiert werden sollen.

Laut BGH müssen Heime eine Gefahrenabwägung vornehmen, wenn zum Beispiel besonders mobile und demente Patienten einquartiert werden sollen. (Symbolbild mit Fotomodell)

© NadoFotos / iStock / Thinkstock

Karlsruhe. Demenzkranke und desorientierte Heimbewohner gehören nicht in ein Obergeschosszimmer mit ungesicherten Fenstern. Wegen der absehbar schweren Folgen eines Unfalls bestehen hier Sicherungspflichten des Heimträgers auch dann, wenn selbstgefährdendes Verhalten nicht besonders wahrscheinlich ist, wie jetzt der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe entschied.

Im konkreten Fall war der hochgradig demente und desorientierte Heimbewohner im dritten Obergeschoss im Dachgeschoss untergebracht. Sein Zimmer hatte ab einer Höhe von 120 Zentimetern zwei große ungesicherte Dachfenster.

Davor waren ein 40 Zentimeter hoher Heizkörper und eine 70 Zentimeter hohe Fensterbank. An einem Nachmittag im Juli 2014 stürzte der 64-Jährige aus einem der Fenster. Er wurde schwer verletzt und starb zweieinhalb Monate später im Krankenhaus.

Mindestens 50.000 Schmerzensgeld verlangt

Für die Angehörigen verlangt die Ehefrau des Mannes ein „angemessenes Schmerzensgeld“ in Höhe von mindestens 50.000 Euro. Ihr Mann sei gerade wegen seiner Demenz und Gedächtnisstörungen in dem Heim untergebracht worden. Dies seien „zwingende Anhaltspunkte“ für die Möglichkeit einer Selbstgefährdung gewesen. Daher habe er nicht im dritten Obergeschoss mit ungesicherten Fenstern untergebracht werden dürfen.

In den Vorinstanzen hatte die Klage keinen Erfolg; mit dem Unfall habe sich ein normales Alltagsrisiko verwirklicht. Der BGH hob diese Urteile nun auf und verwies den Streit an das Oberlandesgericht (OLG) Hamm zurück.

Zur Begründung verwiesen die Karlsruher Richter auf die Pflicht des Heims, „unter Wahrung der Würde und des Selbstbestimmungsrechts der ihm anvertrauten Bewohner, diese vor Gefahren zu schützen, die sie nicht beherrschen“. Dabei könnten auch eher unwahrscheinliche Risiken Sicherungspflichten des Heimträgers begründen, wenn die Folgen besonders schwer sind.

Ein Bewohner, bei dem „unkalkulierbare Handlungen jederzeit möglich erscheinen“, dürfe daher nicht in einem Obergeschosszimmer mit leicht erreichbaren und zu öffnenden Fenstern untergebracht werden, urteilte der BGH.

„Unkontrollierte Lauftendenzen“ bereits bei Heimaufnahme

Hier hätten schon bei der Aufnahme in das Heim schwere Demenzerscheinungen und Gedächtnisstörungen infolge eines Korsakow-Syndroms vorgelegen. Gleichzeitig sei der Mann körperlich sehr mobil gewesen und es habe „unkontrollierte Lauftendenzen“ gegeben.

Mehrfach sei er aus einem Gehwagen herausgeklettert und habe so „eine gewisse motorische Geschicklichkeit“ unter Beweis gestellt. Über Heizkörper und Fensterbrett habe er die Fenster „gleichsam treppenartig“ erreichen können, um auf eine vor dem Fenster gelegene, 60 Zentimeter breite Dachfläche zu gelangen.

Bei dieser Sachlage habe das Heim damit rechnen müssen, dass der Bewohner versucht, sein Zimmer über eines der Fenster zu verlassen. Weil die Folgen dann absehbar besonders schwer waren, komme es nicht darauf an, wie wahrscheinlich ein solches Verhalten war, betonte der BGH.

Bundesgerichtshof, Az: III ZR 168/19

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Kommentare
Dr. Thomas Georg Schätzler 15.01.202113:21 Uhr

Der BGH widerspricht sich selbst

Der Bundesgerichtshof (BGH) widerspricht sich selbst.

- Einerseits Freisprüche in zwei Fällen ärztlich assistierter Selbsttötungen bestätigt:
"Freisprüche in zwei Fällen ärztlich assistierter Selbsttötungen bestätigt
Ausgabejahr 2019
Erscheinungsdatum 03.07.2019 Nr. 090/2019
Urteile vom 3. Juli 2019 - 5 StR 132/18 und 5 StR 393/18
Das Landgericht Hamburg und das Landgericht Berlin haben jeweils einen angeklagten Arzt von dem Vorwurf freigesprochen, sich in den Jahren 2012 bzw. 2013 durch die Unterstützung von Selbsttötungen sowie das Unterlassen von Maßnahmen zur Rettung der bewusstlosen Suizidentinnen wegen Tötungsdelikten und unterlassener Hilfeleistung strafbar gemacht zu haben..."
https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/2019090.html

- Andererseits entschied derselbe BGH für baulich-logistisch zwingend durchzuführende Sicherungsmaßnahmen, weil Demenzkranke und desorientierte Heimbewohner nicht in ein Obergeschosszimmer mit ungesicherten Fenstern gehören. Wegen der absehbar schweren Folgen eines Unfalls bestünden hier Sicherungspflichten des Heimträgers auch dann, wenn selbstgefährdendes Verhalten nicht besonders wahrscheinlich ist.
Bundesgerichtshof, Az: III ZR 168/19

Der BGH hatte offensichtlich gar nicht geprüft, ob der demente Indexpatient nicht selbstbestimmt einen Suzid wegen der Aussichtslosigkeit seines Krankheitsgeschehens begehen wollte und dafür lediglich bauliche Voraussetzungen nutzte. Er hätte nicht mal ärztliche Unterstützung bei seinem Empfinden, Wollen, Handeln und Tun in Anspruch nehmen müssen.

Folgt man dem BGH in seinem Votum eines zwingend einzuschränkenden Selbstbestimmungs- und Existenzrechts von an Demenz-Erkrankten, müsste diese Patintengruppe aus Hochhäusern verbannt von Brücken und Gleisanlagen ferngehalten und am Überqueren einer Straße gehindert werden.

Was würde das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bzw. der EUGH dazu sagen?

Mf+kG, Ihr Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

Katharina Weyandt antwortete am 19.01.202115:15 Uhr

Genau, das habe ich auch gedacht. Was ist die Konsequenz speziell für Heime? "Sperrt alle Demenzkranken ein!"

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