Elektronische Patientenakten
Deutschland verliert den Anschluss
Eine internationale Vergleichsstudie zeigt, dass Deutschland beim Aufbau sektorübergreifender elektronischer Patientenakten hinterherhinkt. Kann der Staat helfen – oder soll er überhaupt? In anderen Ländern geht es schließlich auch anders.
Veröffentlicht:Aus deutscher Perspektive sind wissenschaftliche Untersuchungen zur Frage der Verfügbarkeit elektronischer Patientenakten (ePA) letztlich unnötig. Es gibt in Deutschland keine auch nur annähernd flächendeckenden elektronischen Patienten- oder Gesundheitsakten, die patientenbezogene medizinische Informationen sektorenübergreifend zur Verfügung stellen.
Und was es schon gar nicht gibt, sind elektronische Akten, die dem Patienten jenes Maß an Mitsprache geben, das ihm gemäß Gesetzeslage und deutscher wie europäischer Rechtsprechung eigentlich zustehen würde.
Die Stiftung Münch, die sich seit Längerem mit der Gesundheitsversorgung in Deutschland und hier zunehmend auch mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens beschäftigt, hat jetzt eine internationale Studie zur elektronischen Patientenakte vorgelegt, die unter der Leitung von Professor Volker Amelung vom Institut für Angewandte Versorgungsforschung (INAV) verfasst wurde.
Die Studie, die Ende des Jahres in Buchform veröffentlicht werden soll, nutzt eine Art Ampelsystem, um zu zeigen, wo die unterschiedlichen Länder bei ihren Bemühungen um den Aufbau übergreifender ePA liegen.
Deutschland kommt fast zu gut weg
Deutschland ist dabei gelb und landet im Mittelfeld, genauer auf Rang zehn von zwanzig untersuchten Ländern und damit in derselben Farbkategorie wie Österreich, die Schweiz, Großbritannien und Spanien. Die grünen, weit fortgeschrittenen Länder sind demnach Dänemark, Schweden, Finnland, die Slowakei und Estland.
Als rot und damit noch schlechter als Deutschland werden unter anderem Frankreich und Italien einsortiert. Deutschland kommt damit überraschend und letztlich unverdient gut weg.
Es gab vor wenigen Monaten eine Untersuchung der Europäischen Kommission zu einer ähnlichen Fragestellung, in der Deutschland im unteren Drittel landete, in unmittelbarer Nachbarschaft von Ländern wie Rumänien. Das erscheint realistischer, insbesondere wenn man sich Länder wie Österreich, die Schweiz und Frankreich etwas genauer ansieht.
Österreich hat mittlerweile seine elektronische Gesundheitsakte (ELGA) live geschaltet und rollt diese gerade für den Krankenhaussektor in allen Bundesländern aus. Für diese Akte, bei der die Patienten die absolute Datenhoheit haben, existiert eine klare Gesetzgebung und ein eindeutiger Fahrplan unter Einbeziehung auch der ambulanten Ärzte.
Schmerzhafte Wahrheit
Das Land ist also deutlich weiter als Deutschland. In der Rangliste der Stiftung Münch landet es auf Rang acht und damit zurecht vor Deutschland. Die Wahrheit ist allerdings schmerzhafter: Zwischen Rang acht und Rang zehn klafft ein echter Abgrund.
Auch Frankreich schickt sich an, in Sachen ePA an Deutschland vorbeizuziehen. In kaum einem anderen europäischen Land herrscht in puncto E-Health so viel Dynamik. Warum es in der Analyse Stand heute hinter Deutschland landet, ist ohne Kenntnis der Vollpublikation schwer nachvollziehbar.
Schließlich muss auch die – wie Deutschland – gelbe Schweiz als ein Land gelten, das in einem Ampelsystem Stand heute eindeutig eine bessere Farbe verdienen würde als Deutschland.
Die Schweiz hat einen klaren nationalen Fahrplan für die Einführung einer stark föderierten, streng dezentralen ePA. Und sie hat sich in einem jahrelangen Abstimmungsprozess auf jene internationalen Standards verständigt, die auch in Österreich genutzt werden und die in Deutschland bisher kaum jemand auch nur buchstabieren kann.
Es mangelt an Visionen der Entscheidungsträger
In Richtung der Gesundheitspolitik leiten die Autoren der Studie aus ihren Analysen drei konkrete Handlungsempfehlungen ab. Deutschland sollte demnach seine Anstrengungen beim Aufbau übergreifender ePA deutlich erhöhen, insbesondere einen Wissenstransfer aus anderen Ländern zulassen und Investitionen in den Aufbau flächendeckender Strukturen erhöhen.
Zusätzlich wird eine langfristige E-Health-Strategie mit starken Governance-Strukturen gefordert, außerdem sollen "die Grenzen erkannt und benannt werden", die die gegenwärtige Ausgestaltung der Selbstverwaltung aufweise.
Letzteres ist in der Tat der entscheidende Punkt. In Ländern, die es geschafft haben, ePA-Infrastrukturen aufzubauen, haben visionäre Entscheidungsträger des jeweiligen Gesundheitswesens die Entwicklung vorangetrieben.
Der Impuls muss keineswegs immer vom Staat kommen. Zwar waren es in Ländern wie Estland, Dänemark oder auch Österreich in der Tat staatliche Stellen, die die Impulse gaben. Es handelt sich dabei aber auch um Länder, in denen der Staat erheblichen Einfluss auf die Gesundheitspolitik hat.
Gegenbeispiel Israel
In dem in der Meldung der Stiftung zur Studie nur kursorisch angesprochenen Israel, einem, wenn nicht dem globalen ePA-Vorreiter, lief der Prozess anders ab. Hier war es gerade nicht die nationale Gesundheitspolitik, die die Schrittmacherfunktion innehatte, sondern es waren die vier Health Maintenance-Organisationen (HMO) des Landes.
Sie haben in den letzten Jahren in gegenseitiger Konkurrenz und getrieben vom Interesse der Versorgungsoptimierung die Digitalisierung in atemberaubenden Tempo vorangebracht, bis hin zur Anbindung von Patienten an ihre Akte per interaktiver Mobilfunk-App.
Der Staat hat dabei zunächst zugesehen, und nur punktuell und stets reaktiv gesetzliche Konkretisierungen vorgenommen. Dass das so funktionierte, lag schlicht daran, dass in Israel die HMO, und nicht das Gesundheitsministerium, die entscheidenden Instanzen des Gesundheitswesens sind.
Aufs deutsche Gesundheitswesen übertragen wäre es demnach die Selbstverwaltung, in der sich die Visionäre finden müssten. Und genau daran, nicht so sehr an konsequenter Gesetzgebung, mangelt es leider. Das gilt zumindest für die oberen Ebenen, während sich sowohl auf der Ebene einzelner Kassen als auch bei einzelnen Ärzte(netzen) sowie bei einzelnen Kliniken oder Klinikketten durchaus der nötige Weitblick findet.