Aschaffenburger Ärztetag
Digitalisierung in der Praxis: Realität ist noch ernüchternd
Digitalisierung in den Praxen funktioniert nur mit IT-geübten Ärzten. Aber wer macht sie fit für ihre Mission – und wie? Klare Worte fielen beim Aschaffenburger Ärztetag.
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Aschaffenburg im Herbst: Digitalisierung war eines der wichtigen Themen beim Aschaffenburger Ärztetag. (Archivbild)
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Aschaffenburg. Viele Ärzte sind sich der Dimension, die mit der Digitalisierung in der Medizin einhergeht, noch immer nicht bewusst, beklagte Lars Gottwald als Leiter Business Teams bei der TI-Betriebsgesellschaft gematik vor Kurzem beim Ärztetag Aschaffenburg. Das mag sein. Aber: Wie sehr der Digitalisierungsprozess noch stockt, davon wusste die Mehrheit der Ärzte vor Ort ein Lied zu singen. Alle Teilnehmer klagten darüber, mit der Technik überfordert zu sein und von den Anbietern insbesondere bei der Einführung neuer Techniken in der Praxis allein gelassen zu werden.
Verzweiflung führt zu Retro-Modus
Es gebe, so hieß es mehrfach von Seiten der Teilnehmer „null Anleitung und null Unterstützung.“ Einen Ausweg aus diesem Dilemma sieht die Aschaffenburger Frauenärztin Tanja Seibert nur in einer „persönlichen Eins-zu-Eins-Betreuung.“ Ohne eine ausführliche Einarbeitung durch IT-Experten in der eigenen Praxis werde der Digitalisierungsprozess auch künftig nicht vorankommen.
Selbst vermeintliche Fortschritte wie die Online-Terminvergabe sehen viele Ärzte nicht als Erleichterung an. So berichtete ein Chirurg aus Lohr am Main, dass über die digitale Terminplanung Patienten Termine in der Praxis bekommen hätten, die ihn eigentlich gar nicht brauchten. Er habe deshalb wieder sein Terminbuch reaktiviert.
Um die Wogen zu glätten, rückte Gottwald zunächst einmal die „gewaltigen Ausmaße“ der Digitalisierung in der Medizin in den Fokus. Es gehe darum, die jährlich ausgestellten 500 Millionen Rezepte, 200 Millionen Überweisungen, 144 Millionen Arztbriefe, 77 Millionen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU) und die zehn Millionen Heil- und Kostenpläne digital aufzubereiten. Gottwald stellte vor allem die Verbesserung der Notfallversorgung heraus, wenn sich Notärzte etwa digital auf verlässliche notfallrelevante Daten stützen könnten. Zudem verwies er auf die großen Vorteile der elektronischen Patientenakte (ePA), mit der ein Arzt-Patienten-Gespräch deutlich effektiver gestaltet werden könnte.
„Wir bringen die Digitalisierung in der Medizin einfach nicht hin“, kritisierte Christoph Bornschein, Geschäftsführer einer Beratungsagentur für digitale Technologien in Berlin. Und Professor Rainer Georg Hofmann von der TU Aschaffenburg warnte vor einer ausufernden Vernetzung von Daten und dem übermäßigen Einsatz von digital hochgerüsteten Fitnessuhren, die eher Hypochondern dienten.
Bottom-up-Ansatz für mehr Gehör
Gottwald führt die verbreitete Skepsis für Digitalisierungsprozesse auf vielfältige Faktoren zurück: zu geringe digitale Kompetenz bei Ärztinnen und Ärzten, aber auch bei Patienten, zu wenig Transparenz über digitale Produkte und zu viele Insellösungen. Häufig krankten Krankenhäuser an der Interoperabilität, seien in einzelnen Kliniken nicht einmal die Daten von Station A mit denen von Station B technisch kompatibel, die Daten würden ausgedruckt und dann mit Bett und Patient auf Papier weitergegeben. Gottwald bat daher um Geduld, ein solcher Kulturwandel benötige Zeit: „Wir stehen erst am Anfang:“
Berater Bornschein ermunterte die Ärzte dazu, „Banden“ zu bilden und sich „mehr zu empören.“ Nur mit solch einem Bottom-up-Ansatz könnten ihre Probleme mit der Digitalisierung stärker in den Fokus rücken. Mit dem Aschaffenburger Ärztetag ist genau dies gelungen.