Arbeitsmedizin 4.0

Digitalisierung mischt Karten für Betriebsärzte neu

Die Digitalisierung der Industrie stellt Betriebs- und Werksärzte vor neue Herausforderungen. Dabei stehen körperliche wie mentale Gefährdungspotenziale durch die Mensch-Maschine-Kollaboration im Fokus. Hier wollen auch Gewerkschaften mitreden.

Matthias WallenfelsVon Matthias Wallenfels Veröffentlicht:
Industrie 4.0 – für die Arbeitsmediziner ist das teils noch Neuland.

Industrie 4.0 – für die Arbeitsmediziner ist das teils noch Neuland.

© Poobest / stock.adobe.com

Freiburg. Die Digitalisierung der industriellen Produktionsprozesse in den großen Konzernen entlang der Wertschöpfungskette gilt längst als die nächste industrielle Revolution. Im Mittelpunkt steht dabei die Mensch-Maschine-Kollaboration. Diese kann durchaus vielschichtig sein.

So können teilautonome Roboter große Prozessschritte der Fertigung übernehmen – stets unter menschlicher Aufsicht. Aber auch Exoskelette können bei den Mitarbeitern zum Einsatz kommen – um Prävention im Hinblick auf muskuloskelettale Erkrankungen zu betreiben.

Dieser Paradigmenwechsel in der Arbeitswelt wird auch für eine Zielgruppe relevant, die sonst bei der Digitalisierungsdebatte eine sehr untergeordnete Rolle spielt – die Betriebs- und Werksärzte müssen die neuen Spielregeln inhaltlich verarbeiten und eine Strategie für die Arbeitsmedizin 4.0 erarbeiten. Das war auch beim 70. Betriebsärztekongress des Verbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW) Ende Oktober in Freiburg Konsens.

Wie Professor Bertolt Meyer, Inhaber der Professur Organisations- und Wirtschaftspsychologie der Technischen Universität Chemnitz, betonte, gehe es auch im Zeitalter der digitalisierten Arbeitsprozesse nicht nur vornehmlich um physische Beeinträchtigungen von Arbeitnehmern, die jobbedingt seien. Er verwies in Freiburg darauf, dass von 2004 bis 2016 die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage unter AOK-Mitgliedern wegen psychischer Probleme um 79,3 Prozentpunkte gestiegen ist.

Bei den AU-Tagen wegen Atemwegserkrankungen betrug der Anstieg 39 Prozentpunkte, bei muskuloskelettalen Erkrankungen 20 Prozentpunkte. Wie Meyer betonte, könne die psychische Belastung von Arbeitnehmern im Zuge der Mensch-Maschine-Kollaboration durchaus noch zunehmen – und damit auch die Zahl der entsprechend bedingten AU-Tage.

Roboter – Kollegen und Stressfaktor

Hintergrund sei, dass nicht alle Arbeitnehmer Roboter als unterstützende Kollegen wahrnähmen. Im Gegenteil: Der Einsatz von Robotern und weiteren Digitallösungen in Arbeitsprozessen werde als Bedrohung des Arbeitsplatzes wahrgenommen. Hier müssten Betriebs- und Werksärzte sensibel agieren.

Privatdozent Dr. Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, plädierte in Freiburg dafür, dass die moderne Arbeitsmedizin vor allem „agil“ sein müsse. Die Agilität versteht er mit Verweis auf eine entsprechende wissenschaftliche Definition als „Fähigkeit einer Organisation, relevante Veränderungen in ihrem Umfeld zu antizipieren und ihnen schnell und effektiv zu begegnen, indem sie sich entsprechend neu ausrichtet und das zu ihrem eigentlichen Zweck macht.“ Die Arbeitsmedizin 4.0 müsse, so Urban, „Partei für gute Arbeit ergreifen“.

Für die Kongressteilnehmer schließt sich spätestens hier der Kreis. Denn: „Dr. Hans-Jürgen Urban hat in seinen Funktionen mitgeholfen, den Begriff der ‚guten Arbeit‘ mit den ihm verbundenen Kriterien einer gesundheitsförderlichen Arbeit zu bewerben und in der politischen wie in der wissenschaftlichen Debatte zu etablieren“, hatte VDBW-Präsident Dr. Wolfgang Panter zuvor in seiner Laudatio in Erinnerung gerufen – Panter hatte Urban die VDBW-Ehrenmedaille verliehen.

Präventive Arbeitsmedizin gefragt

Nach Urbans Vorstellungen sollten sich die Betriebs- und Werksärzte vor allem als prospektive Arbeitsmediziner verstehen und für ihr Unternehmen als Kooperationspartner im Produktionsentwicklungs- und Planungsprozess fungieren. Arbeitsgesundheitliche Belange sollten so schon möglichst früh bei unternehmerischen Entscheidungen wie dem Bau einer neuen Produktionsstraße bedacht werden.

Weitere Stichworte lauten „agile Arbeitsanamnese“ und „Jobfloor-Kommunikation“ – die Arbeitsmediziner sollen also zu den Arbeitnehmern vor Ort gehen, um die Gesundheitsgefährdung am Arbeitsplatz zu beurteilen und Arbeitnehmer auch in ihrem Arbeitsumfeld auf gesundheitliche Belange ansprechen.

Letzteres bedeutet nichts anderes als die Umsetzung der im Präventionsgesetz vom Juli 2015 avisierten Prävention in „Lebenswelten“. Last but not least mahnt Gewerkschaftler Urban, das arbeitsmedizinische Berufsbild in Zeiten der Industrie 4.0 weiterzuentwickeln, um mit modernen Ansätzen auf moderne arbeitsmedizinische Fragestellungen entsprechende Strategien entwickeln und Antworten formulieren zu können.

Dass sich die „agile Arbeitsmedizin“ in Großbetrieben, in denen die Gewerkschaften geachtete Partner sind, sicher ohne größere Probleme umsetzen lassen wird, daran zweifelt fast keiner. Offen bleibt dagegen die große VDBW-Dauerbaustelle der arbeitsmedizinischen Betreuung und Prävention in den vielen Klein- und Kleinstunternehmen.

Hier attestieren die Arbeitsmediziner bereits seit Jahren Defizite – ohne nennenswerte Fortschritte. Die Herausforderungen dort sind aber auch eher mit einer traditionellen statt einer agilen Arbeitsmedizin zu meistern – schließlich hinken diese Firmen bei der Digitalisierung massiv hinterher.

Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema
Das könnte Sie auch interessieren
Wie patientenzentriert ist unser Gesundheitssystem?

© Janssen-Cilag GmbH

Video

Wie patientenzentriert ist unser Gesundheitssystem?

Kooperation | In Kooperation mit: Janssen-Cilag GmbH
Höhen- oder Sturzflug?

© oatawa / stock.adobe.com

Zukunft Gesundheitswesen

Höhen- oder Sturzflug?

Kooperation | In Kooperation mit: Janssen-Cilag GmbH
Patientenzentrierte Versorgung dank ePA & Co?

© MQ-Illustrations / stock.adobe.com

Digitalisierung

Patientenzentrierte Versorgung dank ePA & Co?

Kooperation | In Kooperation mit: Janssen-Cilag GmbH
Ein Roboter, der Akten wälzt? Künstliche Intelligenz kann bereits mit Leitlinien umgehen – jedenfalls wenn sie so gut strukturiert sind wie die der DEGAM.

© Iaroslav / stock.adobe.com

Digitalisierung in der Medizin

Kollegin Dr. ChatGPT? Wie Künstliche Intelligenz Ärzten helfen könnte

Digital und innovativ: Klinikum Siegen überzeugt von Fluency Direct

© Solventum Germany GmbH

Solventum Spracherkennung

Digital und innovativ: Klinikum Siegen überzeugt von Fluency Direct

Anzeige | 3M Healthcare Germany GmbH
Kommentare
Carl Billmann, Leiter der Stabsstelle IT, Marketing & Kommunikation bei BillmaMED, Medizinstudent mit dem Berufsziel Dermatologe.

© Doctolib

Interview

„Am Empfang haben wir Stress rausgenommen“

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Doctolib GmbH
Die Patientin tippt ihre Nachricht ins Smartphone, das Praxisteam antwortet direkt über
den Desktop. So sind Vereinbarungen über ein E-Rezept oder eine Befundmitteilung vom Facharzt schnell übermittelt.

© [M] Springer Medizin Verlag | Foto: A_B_C / stock.adobe .com

Digitale Patientenkommunikation

„Das Potenzial für die Zeitersparnis ist riesig“

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Doctolib GmbH
KI-Einsatz mit Robotern im Krankenhaus oder in der ambulanten Pflege? In Deutschland noch schwer vorstellbar. Aber vielleicht ist das dieZukunft. Ein Feld auch für die Geldanlage.

© sirisakboakaew / stock.adobe.com

Interview zum Thema Geldanlage

KI für Anleger: „Ich sollte verstehen, in was ich investiere“

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Deutscher Apotheker- und Ärztebank
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Porträt

Felix Michl: Unternehmer, Jurist und Medizinstudent

Kommentar zur Entscheidung des Bundesrats

Klinikreform – ein Fall fürs Lehrbuch

Lesetipps
Arzt injiziert einem älteren männlichen Patienten in der Klinik eine Influenza-Impfung.

© InsideCreativeHouse / stock.adobe.com

Verbesserter Herzschutz

Influenza-Impfraten erhöhen: So geht’s!