Ethische Fallbesprechung
Entscheidungen im Team entlasten viele Ärzte
Ethische Fallbesprechungen werden etwa an jeder zweiten Klinik eingesetzt, schätzen Experten. Bei schwierigen Entscheidungen suchen Ärzte, das behandelnde Team und Klinikseelsorger gemeinsam nach der besten Lösung.
Veröffentlicht:BERLIN. Der Schlaganfall hat den 76-Jährigen schwer getroffen. Obwohl seine Ehefrau schnell reagiert hat und die Ärzte in der Stroke Unit ihr Bestes gaben, drohen Bernhard Pfaff (Name geändert) schwere Behinderungen.
Durch den Schlag in der linken Hirnhälfte ist die rechte Körperhälfte ganzseitig gelähmt. Er kann nicht selbstständig gehen, kaum sprechen und schlucken.
Wie soll es nun in der Behandlung weitergehen? Ist Bernhard Pfaff schlicht ein Pflegefall? Oder gibt es noch andere Möglichkeit, sein Schicksal zu verbessern?
Eine Patientengeschichte wie die von Bernhard Pfaff ist ein Klassiker für ethische Fallbesprechungen. Der Münchner Medizinethiker Professor Georg Marckmann ist einer der Experten auf dem Gebiet.
In jeder zweiten Klinik in Deutschland, so schätzt er, trifft sich regelmäßig eine multiprofessionelle Runde, um besonders schwere Krankheitsverläufe zu besprechen.
Insbesondere in der Intensivmedizin, in der Onkologie und in der Psychiatrie sei der Bedarf hoch, so Marckmann, gemeinsam eine gute Entscheidung für die weitere Behandlung zu treffen.
Damit dies gelingt, stehen verschiedene Methoden bereit, um dem Klinikteam einen strukturierten und zielorientierten Austausch in sensiblen Fragen zu erleichtern.
Wer hat was registriert?
"MEFES" ist eine davon. Mit der "multidisziplinären ethischen Fallbesprechung in schwierigen Entscheidungssituationen" - wie sie ausgeschrieben heißt - hat der Neurologe Dr. Tilman Becker über viele Jahre hinweg gearbeitet.
Als Leiter des Schlaganfall-Zentrums am Klinikum Augsburg hat er rund zehn Fallbesprechungen pro Jahr mitgestaltet. Das Patientenschicksal von Bernhard Pfaff zählte dazu.
"Wir standen vor der Frage, ob eine Rehabilitation in diesem Fall sinnvoll ist oder der Patient angesichts der absehbaren Abhängigkeit von institutioneller Pflege nicht gleich in eine Pflegeeinrichtung entlassen werden sollte", erinnert sich Becker.
Schließlich wurde dazu eine MEFES angesetzt, um in rund 45 Minuten zu einer Entscheidung zu kommen. "Jeder in der Runde hatte zuvor mit dem Patienten Kontakt und berichtete von seinen Eindrücken", erzählt Becker.
Bei Bernhard Pfaff hatte die Pflegekraft beispielsweise erlebt, wie verzweifelt das Ehepaar angesichts der Krankheit war.
Die Physiotherapeutin berichtete, wie sehr es Bernhard Pfaff anstrengt, längere Zeit in einem Stuhl zu sitzen, die Logopädin war überzeugt vom Erfolg ihres Schlucktrainings, die Sozialarbeiterin stellte die Frage nach dem Sinn einer Rehabilitation, wenn eine institutionalisierte Pflege nicht sicher vermieden werden könne.
Der Klinikseelsorger wusste, wie gern sich der Patient durch Spaziergänge und Schwimmen fit gehalten hatte und wie viel Freude ihm gemeinsames Kochen und Essen bereitete.
Die Runde reflektierte die jeweiligen Sichtweisen nicht nur aus dem professionellen Blick, sondern bewertete sie auch gemeinsam unter den Aspekten Würde, Autonomie und Gerechtigkeit.
Das Team entschied sich schließlich dafür, eine intensive Früh-Rehabilitation für den Patienten zu beantragen.
Lebensfreude stärken
"Ausschlaggebend dafür waren die Einschätzung der Logopädin und die Berichte des Klinikseelsorgers. Wir setzten darauf, dass der Patient von einem intensiven Schlucktraining und Mobilisationsmaßnahmen profitieren würde", berichtet Becker.
Sie hofften darauf, dass gemeinsame Essen mit der Familie sowie Spazierfahrten im Rollstuhl auch seine Lebensfreude wieder stärken könnten.
"Hätten wir den Patienten gleich ins Pflegeheim entlassen, wäre er zum reinen Kostenfaktor entwürdigt worden, und wir hätten ihn der Chance beraubt, unter professioneller Anleitung zu mehr Freiheitserlebnissen zu kommen", so Becker.
Neben MEFES haben sich auch andere Verfahren an deutschen Kliniken etabliert wie zum Beispiel die Nimwegener Methode, das Schweizer Verfahren "Metap", das Modell des Medizinethikers Jochen Vollmann oder auch das der Malteser-Krankenhäuser. "Bislang gibt es jedoch keine allgemein-gültigen Standards für ethische Fallbesprechungen", sagt Professor Marckmann.
Auch er hat ein Modell - das der "Prinzipienorientierten Fallbesprechung", die den Austausch entlang der vier Prinzipien des Wohltuns, des Nichtschadens, des Respekts der Autonomie und der Gerechtigkeit führt.
Professor Rupert M. Scheule, Theologe und Begründer von MEFES, findet es vor allem wichtig, dass "überhaupt ein ethischer orientierter Austausch an einer Klinik stattfindet - egal mit welcher Methode."
Kern einer ethischen Fallbesprechung ist für ihn, "dass der Austausch im multiprofessionellen Team über rein fachliche Fragen hinausgeht und ein konkretes Entscheidungsproblem vorliegt."
Zentral sei dabei, dass die Methode die "menschliche Würde als medizinisch-ethischen Zentralwert" in den Mittelpunkt stelle. Denn überall dort, wo eine "Verzweckung des Menschen" stattfinde, so Scheule, werde die Würde dieses Menschen nicht gewahrt.
Mehrere Schultern tragen die Last
Tilman Becker arbeitet mittlerweile als niedergelassener Neurologe in der eigenen Praxis. Immer mal wieder wird er als MEFES-Experte angefragt. Er ist überzeugt, dass sich ethische Fallbesprechungen in vielerlei Hinsicht für ein Klinikteam lohnen.
Schließlich entlaste es die Ärzte, wenn sie erleben, wie ernsthaft ein Team um eine gute Lösung ringt und dann mehrere Schultern schwierige Entscheidungen mittragen, sagt Becker.
Der Handlungsbedarf sei aber auch im ambulanten Bereich hoch - vor allem dort, wo Ärzte schwer kranke Menschen betreuen wie beispielsweise in einem Pflegeheim.
Aber dort finde ein solch strukturierter Austausch unter ethischen Leitlinien bislang noch zu wenig statt, so Becker.