1,6 Millionen GKV-Versicherte

Im Teufelskreis der Kassenschulden

Wer seine Kassenbeiträge nicht bezahlen kann, gerät schnell in eine Schuldenspirale. Der Grund: Die Krankenkassen sind verpflichtet, eine monatliche Säumnisgebühr zu erheben - und zwar sehr früh. Dies treibt viele Betroffene in die Pleite.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
30 Jahre lang können Kassen ihre Ansprüche bei säumigen Versicherten geltend machen.

30 Jahre lang können Kassen ihre Ansprüche bei säumigen Versicherten geltend machen.

© imago/blickwinkel

HANNOVER. 1,53 Milliarden Euro. So groß ist inzwischen der Schuldenberg, den säumige GKV-Versicherte angehäuft haben (Stand 2/2012).

Das hat der GKV-Spitzenverband mitgeteilt. Ob und wie die Betroffenen dennoch versorgt werden, entscheiden auch die niedergelassenen Ärzte.

Die Kassen-Schuldner sitzen nicht nur auf den Beitragsschulden. Denn in der Regel besteht nur der kleinere Teil der enormen Summe aus den tatsächlichen Rückständen.

"Den größeren Teil macht bei vielen betroffenen Kunden die Säumnisgebühr aus", sagt Carsten Sievers, Sprecher der AOK Niedersachsen.

Die Kassen sind verpflichtet, ab dem zweiten Monat des Beitragsrückstandes monatlich fünf Prozent Säumniszuschlag zu erheben.

Das heißt, die Summe steigt exponenziell: Im Laufe eines halben Jahres türmt sich ein Monatsbeitrag von zum Beispiel 100 Euro zu einem Schuldenberg aus Beitragsschulden plus monatlicher Säumniszuschläge von rund 700 Euro. Kurz: Die Schulden der Betroffenen explodieren.

Jörn Hons, Sprecher der AOK Bremen/ Bremerhaven, nennt das Verfahren "im Prinzip Wucher. So etwas ist in der freien Wirtschaft gar nicht erlaubt."

Früher hätte die Krankenkasse die Säumigen einfach nicht aufgenommen. Aber seit 2007 ist die Krankenversicherung in der Pflicht. Seither müssen die Kassen das Geld eintreiben, so will es der Gesetzgeber.

Im Zweifel klingeln Kassenmitarbeiter, Schuldeneintreiber vom Hauptzollamt oder privater Unternehmer an der Tür der Versicherten; und sie haben das Recht, zu pfänden. "Der Anspruch der Kassen bleibt 30 Jahre lang bestehen", erklärt Sievers.

Die Falle schnappt zu. Der Gesetzgeber treibe finanzschwache Versicherte praktisch für immer in die Pleite.

Deutschlandweit etwa 1,6 Millionen GKV-Schuldner

Betroffen sind vor allem insolvente Verbraucher, freiwillig versicherte Selbstständige, Zahlungsunfähige "bei weitgehender Einkommens- und Vermögenslosigkeit", so der GKV Spitzenverband. Sie stehen nun Forderungen der Krankenkasse gegenüber, bei der sie zuletzt versichert waren - und zwar im Zweifel rückwirkend bis 2007.

Der GKV-Spitzenverband spricht von deutschlandweit 1,6 Millionen dieser Schuldner. Aber betroffen sind auch Firmen, die ihren Anteil der Krankenversicherungen ihrer Mitarbeiter nicht mehr zahlen können. Sie zahlen allerdings nur ein Prozent monatlichen Säumniszuschlags, verdeutlicht Sievers.

Medizinisch versorgt werden diese Versicherten gleichwohl. Aber es steht ihnen keine Chipkarte zu und eine medizinische Versorgung nur bei bestimmten Früherkennungsuntersuchungen, in Akutfällen, bei Schmerzen, in Schwangerschaft und Mutterschaft (Paragraf 163a, SGB V).

"Eine verbindliche Liste von Behandlungen, die im Zweifel ausgeschlossen sind, gibt es nicht", so Hanno Kummer, Sprecher des vdek Niedersachsen.

Orientierungspunkt sei ein Urteil des Bundessozialgerichtes aus dem Jahr 2006 (B1 KR 8/06 R) hinsichtlich der Unaufschiebbarkeit einer Leistung.

Danach wird der Patient dann versorgt, wenn es aus medizinischen Gründen unaufschiebbar ist, bis zu einer Entscheidung der Kasse zu warten, ob sie zahlen will oder nicht.

Nur unaufschiebbare Arztbesuche werden bezahlt

Bei Krankenhausbehandlung ist davon in der Regel auszugehen, dass die Leistung unaufschiebbar ist, meint Kummer. "Aber im ambulanten Bereich muss der niedergelassene Arzt diese Unaufschiebbarkeit auf einem Vordruck, den der Patienten von seiner Kasse erhält, bestätigen."

Der Patient muss dann zunächst selber zahlen und sich das Geld von seiner Krankenkasse per Abrechnungsschein zurückholen, erklärt AOK-Sprecher Sievers.

Immer mehr Betroffene suchen offenbar Hilfe bei den Schuldnerberatungsstellen. "Wir haben sehr viele Anfragen von Menschen, die ihre Kassenbeiträge nicht zahlen können", berichtet Martina Sievers von der zentralen Schuldnerberatung des Diakonischen Werkes, Stadtverband Hannover.

"So kam zum Beispiel eine junge Frau zu uns, die ein kleines Kind hatte, und die GKV-Beiträge nicht aufbringen konnte. Das ist natürlich eine besonders schwierige Situation." Kleinunternehmer, Wohnungslose, Arme - an Rückzahlung ist meistens nicht zu denken.

Mit ihren Klienten verabreden die Berater im Zweifel Ratenzahlungen oder Stundungen der Beiträge. Dann begleichen die Schuldner nach und nach die offenen Beiträge.

Die Säumniszuschläge, also der Löwenanteil, wird dann nach Gesprächen mit der Kasse niedergeschlagen, sagt Martina Sievers.

Aber sie weiß auch: "Wo nichts zu holen ist, da ist nichts zu holen. Und die Schulden bleiben."

Wenn gar nichts mehr geht, sei die Niederschlagung eine Alternative, heißt es bei den Kassen. Lieber wäre ihnen allerdings, die öffentliche Hand würde die säumigen Versicherten entlasten, so etwa Hanno Kummer, oder gleich eine Gesetzesänderung.

Hons: "Den Zuschlag kann nur der Gesetzgeber abschaffen."

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Kommentar;: Wucher von Gesetzes wegen

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