Diagnosefindung
KI auf der Suche nach den Seltenen
Diverse Software-Systeme unterstützen den Arzt bei der Diagnosefindung, besonders, wenn es um potenziell seltene Krankheiten geht.
Veröffentlicht:„Und denken Sie bei Symptomkonstellation X, Y und Z bitte auch an diese Krankheit…!“ – „Dran denken!“ Diese Aufforderung ist oft bei Kongressen oder Fortbildungen zu hören. Nur leider umsonst. Denn mit dem Auswendiglernen von Symptomkomplexen kommt man nicht weit. Das gilt besonders für die Differenzialdiagnostik seltener Krankheiten. Von denen gibt es schätzungsweise 8000.
Angesichts vieler neuer, besonders genetischer Erkenntnisse, werde die Anzahl seltener Erkrankungen, also mit einer Häufigkeit von weniger als 5/10.000 Menschen, stark zunehmen, berichten Dr. Tobias Müller vom Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen (ZusE) am Universitätsklinikum Gießen/Marburg und seine Kollegen. Nach Analysen eines großen Versicherungskonzerns soll der Anteil der Bevölkerung mit einer seltenen Erkrankung im Jahr 2020 bei 10 Prozent liegen (Internist 2018; 59: 391-400).
Seltene unterrepräsentiert
Nicht wenige Ärzte konsultieren „Dr. Google“, wenn sie mit bestimmten Symptomkonstellationen nicht weiterkommen. Das Konzept dieser Suchmaschine ist dafür allerdings ungeeignet: „Standardsuchmaschinen tendieren dazu, seltenen Erkrankungen wenig Gewicht beizumessen“, berichten Müller und seine Kollegen. In der Trefferliste seien sie unterrepräsentiert.
Die Marburger Spezialisten um Professor Jürgen Schäfer, Leiter des ZusE, stellen in ihrem Beitrag Programme vor, die deutlich bessere, weil vergleichsweise weniger falsch-positive Resultate liefern.
FindZebra zum Beispiel, eine in Dänemark entwickelte kostenlose Suchmaschine. Sie umfasst einen Index von 33.400 Artikeln zu etwa 7000 seltenen Erkrankungen. Bei FindZebra werden Phänotypen und Symptome im Freitext eingegeben. „Basierend hierauf findet FindZebra nicht nur genaue Übereinstimmungen, sondern auch ähnliche Erkrankungen“, so Müller und Kollegen. Die Suchmaschine kann in bestehende Systeme integriert werden.
An der Charité Berlin ist Phenomizer entwickelt worden, eine Software, die besonders das Finden genetisch determinierter, syndromaler Erkrankungen unterstützt. Sie basiert auf geordneten klinischen Begrifflichkeiten wie Symptomen, Diagnosen und Veränderungen von Laborparametern. Ein Begriff kann mehreren Überbegriffen zugeordnet sein, der Terminus „Atriumseptumdefekt“ etwa den Begriffen Vorhofdefekt und Septumdefekt.
Mehr als 10.000 Termini mit über 13.000 Beziehungen
Zwischen den mehr als 10.000 Termini umfasst die Software über 13.000 Beziehungen. Daraus ergeben sich 7000 Erkrankungen mit insgesamt 100.000 Begriffen. Um die Nutzung auch mit Fachbegriffen wenig vertrauten Nutzern zu ermöglichen, wurde Phenomizer um umgangssprachliche Synonyme erweitert. In einem Crowd-Projekt wird derzeit die Übersetzung ins Deutsche realisiert. Ein Tutorial gibt es auf Youtube.
Orphanet ist eines der bekanntesten Referenzportale für seltene Erkrankungen in Europa. Dort finden sich kurze Übersichten zu den Krankheiten, Hinweise auf Spezialsprechstunden, Labors und laufende Forschungsprojekte sowie Netzwerke und Selbsthilfegruppen. Die Diagnoseassistenz basiert auf klinischen Symptomen, die aus einem Thesaurus abgerufen werden. Häufige Krankheiten mit entsprechenden Symptomen werden dagegen nicht aufgelistet.
Einheitliche Codierung
Mit dem ORPHA-Code wird eine einheitliche Codierung der Krankheitsentitäten geboten. Ein Problem ist, dass den fast 7000 in Orphanet gelisteten Krankheiten nur 355 einem einheitlichen ICD-10-Code zugeordnet werden können. In einem Projekt werden der ORPHA-Code mit dem ICD-10-GM und der Alpha-ID verknüpft. Außerdem wird mit dem ICD-11 eine einheitliche Codierung seltener Krankheiten möglich sein. Das schafft die Voraussetzungen dafür, die tatsächlichen Häufigkeiten dieser Erkrankungen zu ermitteln.
Nicht speziell für den Bereich seltener Krankheiten konzipiert ist Isabel Healthcare, eine Datenbank, die medizinische Fachbücher, Fachzeitschriften sowie Fallberichte indexiert. Auf dieser Grundlage listet sie nach eigenen Angaben mehr als 11.000 Diagnosen und etwa 4000 Arzneimittel. Die Diagnose-Checkliste generiert für eingegebene Symptome eine gewichtete Liste von Differenzialdiagnosen.
Weiterhin gibt es eine Wissenskomponente: unter einem gefundenen Begriff kann man in verschiedenen Datenbanken wie PubMed, Up2Date, Google oder Medscape suchen. Über eine eigene Schnittstelle ist die Integration ins Klinikinformationssystem möglich, so dass direkt aus einer elektronischen Krankenakte heraus Symptome abgefragt werden können. In Tests und Direktvergleichen fiel Isabel Healthcare mit der vergleichsweise höchsten diagnostischen Genauigkeit auf.