EU-Medizinprodukteverordnung
Notruf abgesetzt: MedTech fordert MDR-Addendum
Die deutsche Medizintechnikbranche sucht die Unterstützung der neuen Bundesregierung, um die Folgen der Pandemie abzufedern und vor allem, um ein Versorgungsdesaster durch die novellierte EU-Medizinprodukteverordnung zu verhindern.
Veröffentlicht:Berlin. Nach einem Umsatzrückgang von 2,1 Prozent im Vorjahr zeigt sich die deutsche Medizintechnik-Branche von dem Corona-Krisenjahr 2020 leicht erholt und erwartet für 2021 in Deutschland ein Umsatzwachstum von 3,0 Prozent – weltweit von 3,1 Prozent. Das Vor-Corona-Niveau mit einem Wachstum von 4,2 Prozent im Inland und 5,8 Prozent weltweit ist aber noch lange nicht erreicht. Das ist das Ergebnis der Herbstumfrage des Bundesverbandes Medizintechnologie (BVMed) unter seinen Mitgliedsunternehmen, die BVMed-Geschäftsführer Dr. Marc-Pierre Möll am Donnerstag in Berlin vorstellte.
An der Herbstumfrage nahmen 110 Mitgliedsunternehmen des BVMed teil. Die Gewinnsituation der Unternehmen sei durch gestiegene Rohstoff- und Logistikkosten stark angespannt. „Dennoch bleibt die Branche ein Jobmotor, die Zahl der Arbeitsplätze steigt weiter“, so Möll. Was den Umsatz im zweiten Coronajahr am meisten gebremst hat, ist in der Grafik dargestellt:
Möll: Kernthemen in den Koalitionsvertrag!
Corona ist indes für den BVMed noch lange nicht ad acta gelegt. Im Gegenteil: Möll erwartet von der neuen Bundesregierung, dass sich die Kernthemen der Zukunftsbranche Medizintechnik auch im Koalitionsvertrag für die neue Legislaturperiode wiederfinden werden. „Wir setzen uns für die Förderung der Medizintechnik am Standort Deutschland ein“, verdeutlichte der BVMed-Vorstandsvorsitzende Dr. Meinrad Lugan, Vorstand bei B. Braun.
Die Ausgangslage sei nicht schlecht. „Mit der Corona-Pandemie sind Medizinprodukte stärker ins Bewusstsein von Öffentlichkeit und Politik gerückt. Entsprechend finden sich die Themen unserer MedTech-Branche auch in allen relevanten Wahlprogrammen. Jetzt müssen den Worten auch Taten folgen“, so Lugan.
MDR-System immer noch nicht praxistauglich
Das aktuell wichtigste Medizintechnik-Branchenthema ist die zum 26. Mai dieses Jahres in Kraft getretene, novellierte EU-Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation/MDR). Wie der BVMed vor Kurzem mit Blick auf eine Blitzumfrage unter seinen Mitgliedsunternehmen mitteilte, zeige die MDR bereits jetzt dramatische Auswirkungen auf den Medizintechnik-Markt. Über 70 Prozent der Mitgliedsunternehmen im Branchenverband BVMed haben demnach aufgrund der MDR-Neuregelungen einzelne Medizinprodukte oder ganze Produktlinien eingestellt. Darüber hinaus gaben 55 Prozent der Unternehmen an, dass bisherige Lieferanten bereits ihre Geschäftstätigkeit aufgrund der MDR eingestellt haben.
Hier erwartet der BVMed von der neuen Bundesregierung eine europapolitische Initiative in Form eines „Addendums“ zur MDR, damit die Gesundheitsversorgung nicht gefährdet wird und der medizintechnische Innovationsstandort Europa im internationalen Wettbewerb mithalten kann. Denn, „mehr als drei Jahre nach Inkrafttreten und über vier Monate nach Geltungsbeginn der MDR ist das MDR-System immer noch nicht praxistauglich“, so Lugans Warnruf. Noch immer gebe es einen dramatischen Kapazitätsengpass bei den für die Konformitätsbewertungen zwingend einzuschaltenden Benannten Stellen.
Wie Lugan auf Nachfrage der „Ärzte Zeitung“ erläuterte, seien bis dato erst 23 Benannte Stellen notifiziert, zehn weitere stünden bis Ende des Jahres in der Warteschleife. Da das dortige Personal teils auch erst MDR-fest gemacht werden müsste, lägen die Konformitätsbewertungsverfahren im Schnitt 18 Monate statt der avisierten 90 Tage.
Wegen der Engpässe und gestiegenen bürokratischen Aufwände drohten noch mehr Produkte zum Nachteil der medizinischen Versorgung der Bevölkerung vom Markt zu verschwinden – auch Nischenprodukte. Zudem kämen medizintechnische Innovationen zum Erliegen, da sich Forschungsabteilungen aktuell auf MDR-Regularien fokussieren müssten. Bleibe es beim Status Quo, so könnten sogar bis zu 1000 MedTech-Unternehmen in Deutschland dem Untergang geweiht sein, warnte Lugan.
Branche schlägt Ad-hoc-Maßnahmenpaket vor
Der BVMed schlägt deshalb folgende Lösungen vor:
Schnelle Notifizierung der BS: Benannte Stellen müssen in einer konzertierten Aktion aller beteiligten Behörden schneller notifiziert werden. Es müssen genügend Ressourcen in den BS vorhanden sein. Für Hersteller, die nachweislich keine BS finden, müssen Lösungen etabliert werden.
Mehr zeitlicher Spielraum: Die Übergangsphase und die Laufzeit der bisherigen Zertifikate müssen verlängert werden, um den abzusehenden Engpass im Jahr 2024 zu entzerren.
Pragmatismus gefragt: Für bewährte Bestandsprodukte müssen unbürokratische und pragmatische Lösungen beispielsweise über das Instrument der „Anerkennung klinischer Praxis“ gefunden werden.
Ausnahmen für Nischenprodukte: Für „Orphan Devices“, also Nischenprodukte, muss die Europäische Kommission Ausnahmeregelungen nach dem US-Vorbild der „Humanitarian Device Exemption“ sowie der „Orphan Drug“-Regelungen in Europa schaffen.
Mittelstand stärken: Für die kleinsten und mittleren Unternehmen, die für die Branche in Deutschland charakteristisch sind, sollten spezielle Förderprogramme zur Bewältigung der erhöhten MDR-Anforderungen aufgelegt werden.
Ruf nach „Initiative Medtech 2030“
Um den Medizintechnik-Standort Deutschland zu stärken, schlägt der BVMed der neuen Bundesregierung eine „Initiative Medtech 2030“ vor, um die Maßnahmen zwischen Forschungs-, Wirtschafts-, Arbeits- und Gesundheitspolitik abzustimmen. Der BVMed beklagt schon lange, dass der im Koalitionsvertrag der Großen Koalition vereinbarte „Strategieprozess Medizintechnik“ während der gesamten Legislaturperiode nie wirklich mit Leben gefüllt worden sei.
So setze sich der BVMed beim Krisenmanagement dafür ein, dass die MedTech-Branche frühzeitig in die Krisenstäbe der Bundesregierung eingebunden werde, so Möll. Fehler, wie die nationalen Exportverbote zu Beginn der Krise, dürften sich nicht wiederholen, mahnte Lugan ergänzend: „Wir brauchen für die komplexen Lieferketten einen freien Warenverkehr. Zugleich müssen wir eine strategische Unabhängigkeit bei versorgungskritischen Produkten durch den Aufbau europäischer Produktionen anstreben.“
Um Gesundheitseinrichtungen, Krankenversicherungen und Patienten zu entlasten, schlägt der MedTech-Verband einen einheitlichen Mehrwertsteuersatz auf Medizinprodukte von sieben Prozent vor.