E-Health
Quo vadis, digitale Versorgung?
Vertreter der Gesundheitswirtschaft diskutierten in Hamburg über digitale Innovationen in der Medizin: Einige forderten rascheres Tempo, einer drückte mahnend auf die Bremse.
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Diskutiert wurden Grenzen und Chancen der Digitalisierung.
© Phil Dera für DIE ZEIT
Hamburg. Elektronische Analyse-Tools, die Schlaganfälle aufdecken können, Online-Krankschreibungen oder Online-Sprechstunden: Wie wird die Digitalisierung die Patientenversorgung verändern? Das fragten sich auf der Hamburger „ZEIT Konferenz Gesundheit“ die Teilnehmer der Diskussionsrunde zu Innovationen in der Patientenversorgung.
Der Hamburger Unternehmer Dr. Can Ansay pries die Digitalisierung als enorme Chance und warnte davor, sie zu verspielen. Er handelt mit AU-Scheinen. Rund 15 000 Online-Krankschreibungen hat er inzwischen verkauft. Für eine Gebühr von neun Euro können sich Arbeitnehmer mit Schniefnase oder Kreuzschmerzen den Weg zum Hausarzt sparen. Der Nutzen der unkomplizierten Krankschreibung: „Die Leute schleppen sich nicht mehr krank zur Arbeit, und stecken dann auch niemanden mehr an“, sagte Ansay.
Rückschritt im Fortschritt?
Man müsse ernst machen mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen, forderte der Unternehmer. Sie werde in Deutschland nicht entschieden genug vorangetrieben. Zum Beispiel das dritte Bürokratieentlastungsgesetz: Danach werden die Krankschreibungen zwar online verschickt – aber der Patient muss immer noch einen Ausdruck des AU-Scheins erhalten. „Das war vorher nicht nötig, aber jetzt ist es nötig. Das ist ein Rückschritt!“, kritisierte Ansay.
Ähnliche Kritik hatte er auch an Video-Chats: Zwar müsse der Patient sich nicht auf den Weg machen, aber der Arzt habe keinen Vorteil. Ansay mahnte, die Entwicklung nicht zu verpassen und die Chance der Digitalisierung zu nutzen, „damit wir nicht nur Nutzer von Facebook und Google werden“. Dr. Thomas Kostera von der Bertelsmann-Stiftung betonte, die Digitalisierung dürfe nicht Selbstzweck werden „sondern sie funktioniert nur mit Zielen gut.“ Das zeigten Anwendungen im Ausland. In Dänemark können die Patienten über gesicherte Chat-Dienste über das Handy mit ihrem Arzt Kontakt aufnehmen.
Wenn Patienten ins Krankenhaus gehen, werden die die letzten Diagnosen und Medikamente der Patienten automatisch mitgeschickt. Die elektronische Patientenakte biete den Patienten zum Beispiel über ihre persönlichen Daten hinaus gesicherte Informationen zu ihren Krankheiten. In Israel gebe es eine telemedizinische Betreuung alter Patienten, etwa um Stürze zu vermeiden. Fachkräfte erheben den Gesundheitszustand der Senioren und geben die Daten über die elektronische Patientenakte an den Facharzt weiter. Er entscheidet, ob ein Hausbesuch nötig wird. „Wenn man dann nach Deutschland zurück kommt, merkt man, wie sehr man hierzulande hinterher hängt“, sagte Kostera.
Grenzen der Digitalisierung
Aber wie lassen sich Ziele setzen, wie Kostera sie fordert? Das fragte Katina Sostmann von der Firma aperto, einem IBM-Ableger. Die Digitalisierung komme, darüber brauche man nicht mehr zu diskutieren. „Wir müssen aber lernen, ihr Ziele und Grenzen zu setzen“, sagte Sostmann. „Und zwar multiperspektivisch. Den Raum dieser Diskussion würde ich gerne öffnen.“ Patienten mit Prostata-Karzinom dürften etwa die Anwendung Künstlicher Intelligenz (KI) bei der Bildauswertung begrüßen, wenn sie sie weiterbringt.
Dr. Sabrina Reimers-Kipping von der Firma FUSE AI, unterstrich jedenfalls die gesteigerte Diagnosesicherheit und die Automatisierung, die durch Algorithmus-unterstützte Bildauswertung möglich sei. Derzeit würden ohne KI-Unterstützung 11 Prozent der Prostatakarzinome übersehen. Diesen Wert will FUSE AI mit der Anwendung drücken, indem der Arzt durch das Tool zum Beispiel eine 3D-Visualisierung des Organs bekommt. Die digitale Assistenz spare ihm Zeit und Geld.
Nur der Philosoph Professor Klaus Wiegerling vom Karlsruher Institut für Technologie bremste die allgemeine Zustimmung zur Digitalisierung der Medizin. „Ohne Zweifelnde gibt es keine Wissenschaft“, so Wiegerling.
Die Technik könne entlasten, habe aber auch „Entmündigungspotenzial für Ärzte“. „Wenn sie sich nicht mehr trauen, ihre eigene Intuition gegen die Technik durchzusetzen, dann haben wir ein Problem“, mahnt Wiegerling. Weil man auf die Expertise eines Fachmannes nicht verzichten kann, sei die beste Lösung: „Arzt plus Digitalisierung.“