Ärgernis Numerus Clausus
Wer soll in Deutschland Medizin studieren dürfen?
Das Interesse am Medizinstudium ist enorm, aber nur ein geringer Teil der Bewerber erhält sofort einen Studienplatz. Wichtigstes Vergabekriterium: die Abiturnote. Das Bundesverfassungsgericht soll nun klären, ob das Recht auf freie Berufswahl überhaupt noch gegeben ist.
Veröffentlicht:Ferdinand Kirchhof, Vorsitzender des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, sprach von einem "Flaschenhals aus verfügbaren Studienplätzen", einem "Knappheitsproblem, das die Lebensplanung junger Menschen in Deutschland gravierend betrifft". Ist also der in den 1970-er Jahren von den Karlsruher Richtern formulierte Anspruch auf Teilhabe zur reinen Mangelverwaltung verkommen?
Die Misere, über die das Bundesverfassungsgericht am Mittwoch verhandelt hat, lässt sich in Prozent ausdrücken: Inzwischen bewerben sich fast 62 000 junge Menschen auf 11 000 Studienplätze im Fach Humanmedizin – weniger als 18 Prozent also bekommen einen Platz.
Nach Abzug einer Vorabquote, etwa für Härtefälle oder Bundeswehr-Ärzte, werden 20 Prozent der Plätze zentral über die Abiturnote vergeben, weitere 60 Prozent von den Hochschulen selbst. Die Kriterien und vor allem deren Gewichtung sind unterschiedlich, doch generell spielt auch hier die Abiturnote eine zentrale Rolle.
Wartezeit beträgt im Schnitt sieben Jahre
Nur bei weiteren 20 Prozent der Plätze ist das nicht der Fall. Sie werden über die Wartezeit vergeben. Und so lässt sich die Misere auch in Jahren ausdrücken: Bewerber, die über die Wartezeitquote einen Medizinstudienplatz wollen, müssen derzeit siebeneinhalb Jahre warten.
Dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, das bundesweit für die Vergabe über die "Bestenquote" zuständig ist, war das zu viel Note und zu wenig Arzt. Zwei Fälle – Abiturdurchschnitt 2,0 und 2,6 – hatte es daher dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt.
Dabei ist das Problem nicht auf Medizin beschränkt. Auch andere Fächer, etwa Psychologie, setzen eine Traumnote voraus. Zulassungsbeschränkungen und Numerus Clausus gibt es bei über 40 Prozent der Studiengänge insgesamt.
"Der Kampf um die Noten hat die Schule verändert", sagte Isabel Molwitz von der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland. Mit den Lehrern werde verhandelt und gefeilscht. Und Leistungskurse würden nicht immer nach Interesse und Berufswunsch gewählt, sondern auch nach der erhofften Note.
Nun ist es nicht Sache der Richter, die beste Lösung für die Misere vorzuschlagen. Entscheidend für sie wird sein, ob das gegenwärtige Vergabesystem noch den Anforderungen des Grundgesetzes Stand hält – insbesondere dem Recht auf freie Berufswahl sowie dem Gleichheitsgebot. Max-Emanuel Geis, Bevollmächtigter fast aller Bundesländer in dem Verfahren, verwies zudem auf die im Grundgesetz verankerte Freiheit für Forschung und Lehre und das Haushaltsrecht der Länder.
Mit letzterem wollte er Forderungen nach einer allzu starken Ausweitung des Angebots an vergleichsweise teuren Medizinstudienplätzen vorbauen.
Wichtiger war die Wissenschaftsfreiheit. Damit rechtfertigte der Jura-Professor von der Universität Erlangen-Nürnberg den hohen Anteil von 60 Prozent der Studienplätze, den die Universitäten selbst vergeben. Insgesamt sei das System sicher verbesserungsfähig, und die Länder arbeiteten auch daran. Doch verfassungswidrig sei das Vergabesystem auch jetzt nicht.
Unübersichtliche Auswahlverfahren
Ob die Karlsruher Richter diese Ansicht teilen, hängt wohl überwiegend von den Verfahren der Hochschulen ab. Denn dass die Wartezeit-Quote als alleiniges Korrektiv zur Note nicht reicht, ist angesichts der tatsächlichen Wartezeiten offenkundig. Hier wird über eine Obergrenze nachgedacht. Zudem planen die Länder, künftig wieder nur tatsächliche Bewerbungszeiten zu berücksichtigen, und nicht einfach die seit dem Abitur verstrichene Zeit.
Doch das Verfahren der Hochschulen ist unübersichtlich. Teils verhelfe Wissen über die Geschichte der jeweiligen Universität zum Erfolg, beklagte Studentin Molwitz.
Insgesamt gibt es neben der Abiturnote aber durchaus gemeinsame Kriterien, die abgefragt oder getestet werden, etwa räumliches Vorstellungsvermögen, Sprache und Einfühlungsvermögen. In Oldenburg, in denen solche Kriterien besonders stark gewichtet werden, konnte man zuletzt auch mit einem Abiturdurchschnitt von 2,8 noch einen Medizin-Studienplatz bekommen.
Besonders wichtig ist hier auch, nach welchen Kriterien die Universitäten Kandidaten einladen. So können Bewerber an der Universität Lübeck ihren Abiturdurchschnitt durch Engagement oder berufliche Erfahrung in Bereichen wie Sport, Gesundheit und Soziales um immerhin eine Note aufbessern.Ein in Karlsruhe mehrfach angesprochenes Manko sind die unterschiedlichen Durchschnitte in den einzelnen Bundeländern. Bei der "Bestenquote" wird dies durch Länderquoten ausgeglichen, nicht aber bei der Vergabe durch die Hochschulen.
Ausdiskutiert waren diese Fragen am Mittwoch bis Redaktionsschluss noch nicht. Auch ein Termin für die Urteilsverkündung stand noch nicht fest.