Medizinstudent fordert

"Wir brauchen weniger Theorie"

Medizinstudent Philipp Humbsch hat genug von den "Helden der Vergangenheit", die den Qualitätsverfall des Medizinstudiums beklagen.

Von Philipp Humbsch Veröffentlicht:
"Wir brauchen weniger Theorie"

© privat

Meistens ist Praxis im Studium ein stiefmütterliches Thema. Wichtiger ist es, sich unzählige Seiten und Abbildungen einzuhämmern, und das klappt meistens auch nur bis zur Prüfung.

Irgendwann fragt dich der Operateur, was diese eine Struktur ist, die er gerade freipräpariert hat. Du wusstest es mal, aber musst jetzt raten. Wehe dir, du weißt nicht, dass es der rechte Ast des Recurrens ist, der hinter der Schilddrüse zum Kehlkopf zieht.

Denn dann stößt ein echauffierter Chirurg gerne mal eine Diskussion über die "heutige Qualität im Studium" an, die ja wohl ganz schön nachgelassen hat. Wie kann man so etwas Elementares nicht wissen? Früher, da wäre das alles anders gewesen – und dann kommt sie wieder, die alte Leier von den cholerischen Präpdozenten, die arme Studiosi früher mit Anatomieatlanten um den Tisch gejagt hätten, wenn sie nicht alle Nebenäste des Vagus im Schlaf aufsagen konnten.

Ernsthaft. Das glaubt euch niemand. Keiner. Nicht mal der Anästhesist, wenn er hinter seinem Automaten hervor schielt und sich über den Wutausbruch des Chirurgen freut, der mal nicht ihn getroffen hat. Früher war alles schlimmer. Jaja, wir können es nicht mehr hören.

Besonders lustig wird das Ganze, wenn der Operateur Assistenzarzt ist, im dritten Jahr, und man eigentlich genau weiß, dass keiner der Präpdozenten, auch nicht vor zwanzig Jahren und schon gar nicht zu seiner Zeit, flink genug war, überhaupt irgendjemanden durch die Anatomie zu jagen. Viele sind ja froh, wenn Sie ihr Hörgerät ausstellen, ohne dass es die Studenten merken.

Was macht ein gutes Studium? Oder, anders gefragt, was muss ein Arzt nach dem Studium können? Ist es wirklich unser Anspruch, unzählige Bücher auswendig gelernt und wieder vergessen zu haben, oder wollen wir etwas anderes? Wäre in der Ausbildung ein Fokus auf die richtige körperliche Untersuchung und Anamnese nicht vielleicht doch wichtiger als der Verlauf von Nerven, die die meisten Fachärzte nur noch vom Hörensagen zu kennen scheinen?

Wem wollen die was vormachen?

Ganz eifrige Studis gehen nach so einer Maßregelung in die Selbstkasteiung, schippen Asche auf ihr Haupt und geloben diese eine Struktur bis morgen ins Hirn geprügelt zu haben, beim heiligen Paracelsus. Und alle anderen Strukturen auch.

Ich frage mich, wem die was vormachen wollen. Wem, wenn nicht gerade einem Anatomen, nutzt das komplette Wissen über alle Feingliedrigkeiten der menschlichen Anatomie? Das Wissen in der Medizin wächst stetig, neue Therapieverfahren sind nicht nur Stand der Wissenschaft, sie sind auch Teil des Lehrplans, und werden in Prüfungen abgefragt. Die müssen gelernt werden, das und alles andere auch. Wie viel davon immer sinnvoll ist, wird nicht gerne diskutiert. Es zählt, was reinkommt, nicht was rauskommt. Der Fokus liegt auf theoretischem Wissen, Praxis spielt keine wichtige Rolle. Das ist dämlich.

Wir brauchen weniger Theorie, denn wir kriegen es nicht mehr hin, alles vom ersten bis zum zwölften Semester zu erinnern, haben selten einen Überblick über alles, wie man ihn als approbierter Arzt haben sollte. Und das hätten die Helden der Vergangenheit mit unserem Lehrplan auch nicht leichter.

Also anstatt immer mehr Wissen immer oberflächlicher zu behandeln, damit es in 12,5 Semester Studium gepresst werden kann, braucht es eine ehrliche Diskussion.

Und eine Beschränkung auf Wesentliches, aber das dann richtig. Es ist wenig sinnvoll, die angehenden Ärzte mit Lerninhalten zu malträtieren, die sie zwei Semester später wieder vergessen haben. Die Unis müssen uns auf das vorbereiten, was wir alle unweigerlich brauchen, unser Handwerkszeug: die Untersuchung und Anamnese.

Ultraschallgerät und Röntgenbild

Einige Unis machen es vor, lehren in Untersuchungskursen ab dem ersten Semester wie man einen Patienten von "Hacke bis Nacke" untersucht, wie man verschiedene Instrumente nutzt, ein Ultraschallgerät richtig bedienen kann und auch, wie man auf einem Röntgenbild zumindest wichtige Symptome in einer Notfallsituation in der Rettungsstelle nicht übersieht.

Es fängt beim richtigen Auskultieren an, und hört beim Blutabnehmen nicht auf. Wenn so etwas erst dann kommt, wenn man es bereits voraussetzt – also als approbierter Arzt –, dann ist das zu spät. Wer denkt, dass es wichtiger ist, die Nebenäste des Vagus runterbeten zu können, als den auskultatorischen Untersuchungsbefund der Lunge zu erheben und zu deuten, der ist bereits verkalkt. Oder zu weit weg vom Patienten. Oder beides.

Gute Praxis in die Famulaturen auszulagern, wird der Wichtigkeit der praktischen Ausbildung nicht gerecht, auch weil die meisten Krankenhäuser solche Dinge lieber den Assistenzärzten beibringen. Famulanten gucken viel zu oft nur zu.

So wichtig Praxis also eigentlich wäre, eine praxisbetonte Ausbildung hat zwei entscheidende Nachteile. Sie ist teuer. Die Gerätschaften vorzuhalten kostet Geld, und effektiver Praxisunterricht, der in Kleingruppen stattfindet, kostet auch Geld. Der andere ist die Frage nach der Prüfbarkeit der Fähigkeiten. OSCE ist da eine Idee, aber günstig ist das Prüfungsformat auch nicht. Theorie ist billiger, MC-Tests auch – obwohl es weniger bringt. Praxis kostet Zeit und Geld. Doch was ist uns gute Lehre wert?

Philipp Humbsch

Alter: 25

Aktuelle Position: Student der Humanmedizin an der Charité in Berlin. Humbsch arbeitet außerdem im Rettungsdienst im Landkreis Oder-Spree und als Sprechstundenhilfe bei einem Hausarzt.

Für die "Ärzte Zeitung" bloggt Philipp Humbsch regelmäßig:

www.aerztezeitung.de/924878

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Kommentare
Peter Konopka 09.01.201713:11 Uhr

"Wir brauchen weniger Theorie"

Ich stimme Ihnen zu, dass man (wieder wie früher) das Auskultieren lernen und regelmäßig üben muss. Ich selbst habe bei der Ausbildung von Studenten allerdings immer wieder die Erfahrung gemacht, dass dazu die notwendige Geduld fehlt. Oft kam das Argument: "Das habe ich schon mal gehört" als Entschuldigung dafür, dass man nicht noch einmal hinhört. Aber man muss auch Normalbefunde tausendmal hören, um die davon abweichenden pathologischen Befunde zu erkennen.
Ich glaube allerdings, dass das Studium der Theorie in "dicken Büchern" nach wie vor notwendig ist. Denn "nur der Narr möchte alle Fehler selber machen. Der Weise lernt aus den Fehlern anderer". Außerdem: Wenn man die Hälfte des Gelesenen vergisst, muss das dann noch ausreichen, um den Überblick und Durchblick zu behalten. Und diese Hälfte ist umso größer je "dicker" das gelesene Buch war.
Und schließlich bin ich der Meinung, dass die wichtigste Grundlage einer realistischen Medizin die Pathologie ist. Man muss wissen, wie die Krankheit aussieht, wie sie sich anfühlt, und auch sollte man wieder erkennen, dass ein Mensch nicht nur eine sondern viele Krankheiten hat, und wie sie aussehen. Diese Kenntnisse braucht man immer - bei der Auskultation, bei der Sonographie und bei den bildgebenden Verfahren. Ohne Pathologie schustert sich jeder sein eigenes Bild von den Krankheiten zusammen, und es ist mehr oder minder Glücksache und oft auch subjektiv, wie man aufgrund der eigenen mentalen Bilder Krankheiten einstuft. Deswegen ist auch der Prozentsatz von Fehldiagnosen trotz der wunderbaren bildgebenden Verfahren nicht geringer geworden. Die Befunde werden serviert - und man hat das Denken verlernt.
Und man muss viel wissen, um mit möglichst wenig Aufwand das Richtige zu tun. Das geht ohne ausführliche Theorie nicht. Und man muss (wieder) selbständig denken lernen (trotz bildgebender Verfahren), um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das geht ohne praktische Erfahrungen in der Pathologie nicht. Und man muss sich trotz hervorragender bildgebender Verfahren "herablassen", den Patienten körperlich (einschließlich Palpation, Perkussionsinstrument und Auskultation) zu untersuchen. Das fördert die richtige Entscheidung - und den Kontakt zum Patienten.

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