Blickdiagnose
Was das Gesicht über Krankheit verrät
Noch bevor typische Symptome auftreten, spüren andere Menschen, dass ein Mitmensch eine ansteckende Krankheit hat. Auch Ungeschulte haben dabei eine Begabung zur intuitiven "Blickdiagnose", ergab eine Studie. Doch man muss wissen, worauf man achtet.
Veröffentlicht:Auch evolutionsbiologisch betrachtet ist es eine wichtige Eigenschaft, dass man einen kränkelnden Artgenossen früh erkennt: Denn wenn man ein infektiöses "Herdenmitglied" meidet, kann man sich schließlich selbst nicht anstecken. Und durch rasche Identifikation eines Kranken kann man ihm häufig am besten helfen.
Dass wir die archaische Fähigkeit der intuitiven "Blickdiagnose" nicht verloren haben, zeigt eine aktuelle Studie, an der Forscher aus Stockholm, New York und Essen beteiligt waren (Proc R Soc B 285: 20172430; online 3. Januar 2018). Zunächst wurden 22 gesunde Freiwillige im Alter zwischen 19 und 34 Jahren rekrutiert, die bereit waren, sich ein bakterielles Toxin (Escherichia-coli-Endotoxin) spritzen zu lassen.
Die Teilnehmer wurden an zwei Zeitpunkten fotografiert: einmal etwa zwei Stunden nach Injektion des krank machenden Endotoxins und einmal mehrere Wochen später nach einer Placebo-Spritze, die lediglich Kochsalz enthielt. Je ein Bild war dabei im kranken und eines im gesunden Zustand entstanden.
Allerdings handelte es sich bei der Endotoxin-Injektion nur um einen bakteriellen Stimulus, der eine nicht spezifische Immunantwort hervorrief, und nicht um ein tatsächlich infektiöses Geschehen.
Insgesamt 32 Bilder ließen sich auswerten, zwei von jedem Teilnehmer; nur 16 Probanden hatten den Versuch vollständig durchgeführt.
Urteil binnen fünf Sekunden
62 Studenten aus Stockholm wurden nun gebeten, sich die Bilder anzusehen, und zwar nur für jeweils fünf Sekunden, um zu beurteilen, ob die Person darauf "krank" oder "gesund" aussah. Von insgesamt 2945 Bewertungen, die die nicht darin geschulten Studenten abgaben, lauteten 1215 auf "krank".
Davon waren 775 echte Treffer, in 440 Fällen war es ein Fehlalarm. Das entspricht einer Sensitivität von 52 Prozent und einer Spezifität von 70 Prozent.
Das Unterscheidungsvermögen war also zumindest kein reines Zufallsergebnis, wie auch die Fläche unter der ROC-Kurve zeigte, die einen Wert von 0,62 ergab (ein Wert von 1,0 entspräche einer perfekten Krankheits-Erkennung, 0,5 wäre Zufall).
Eine zweite Gruppe von Beurteilern aus 60 Teilnehmern sollte sich nun bestimmte Gesichtsmerkmale genau ansehen und beurteilen, wie sich diese zwischen den beiden Konditionen (nach Toxin- oder nach Placebo-Injektion) unterschieden.
Kriterien der Betrachter
Die deutlichsten Unterschiede wurden bei den Lippen der betrachteten Person beobachtet: Nach Injektion des Toxins wirkten diese im Urteil der Betrachter deutlich blasser als unter Placebo. Auch Gesichtsblässe, Schwellung des Gesichts, hängende Mundwinkel und Augenlider sowie Rötung der Augen wurde bei der Toxingruppe als stärker empfunden.
Für alle diese Hinweise zeigte sich zudem eine signifikante Korrelation zur Bewertung der Probanden auf den Fotos als "krank". In einer weiteren Analyse, in der alle Hinweise gleichzeitig betrachtet wurden, erwiesen sich blasse Hautfarbe und hängende Augenlider als stärkste Mediatoren.
Und auch ein "müdes Aussehen" schien ein Marker für eine offenbar vorliegende Krankheit zu sein. Als stärkste positive Korrelation erwies sich schließlich die Kombination aus blassen Lippen und blasser Haut.
Weitere Zeichen früher Infektionen
All das, so das Team um Professor John Axelsson vom Stressforschungsinstitut der Universität Stockholm, spricht dafür, dass "wir offenbar Krankheitszeichen an Haut, Mund und Augen bereits in einem frühen Stadium einer Infektion erkennen können". Dies wäre insofern von Vorteil, als das Infektionsrisiko zu Beginn der Erkrankung oft besonders hoch ist.
Mit einer ROC-Fläche von 0,62 sei die Vorhersagekraft zugegebenermaßen relativ gering, allerdings, so die Forscher um Axelsson, müsse man berücksichtigen, dass es sich nur um Fotos handelte, die zudem nur sehr kurz betrachtet werden durften.
Im wirklichen Leben könne man meist viel mehr Hinweise zur Beurteilung eines Patienten heranziehen, so die Forscher: außer dem Gesicht zum Beispiel auch den Körpergeruch, die Art zu sprechen und den Gang des Patienten. (Mitarbeit: eis)