1,4 Millionen Abhängige
Wo die Wurzeln der Arzneimittelsucht liegen
Rund 1,4 Millionen Bundesbürger sind abhängig von Arzneimitteln. Ein Grund dafür: Viele Menschen nehmen Medikamente ein, ohne dass es dafür eine medizinische Notwendigkeit gibt.
Veröffentlicht:BERLIN. Deutlich mehr als die Hälfte der Deutschen (60 Prozent) finden es akzeptabel, Medikamente ohne medizinische Notwendigkeit zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit, gegen Angst oder Nervosität und zur Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit einzusetzen.
30 Prozent der 16- bis 70-jährigen Bundesbürger, so eine repräsentative Forsa-Online-Umfrage im Auftrag der Bundesapothekerkammer, haben schon einmal Arzneimittel zu diesem Zweck eingenommen, für weitere 25 Prozent käme dies in Frage.
Ein erschreckendes Ergebnis, denn aus Sicht des Vorsitzenden der Arzneimittelkommission der deutschen Apothekerschaft, Professor Martin Schulz, stellt dies eindeutig einen gefährlichen Fehlgebrauch von Arzneimitteln dar – mit erheblichem Suchtrisiko.
Eine mögliche Erklärung sind Defizite bei Gesundheitswissen und -bildung. Wie es damit bestellt ist, beleuchtete Professor Marie-Luise Dierks von der Medizinischen Hochschule Hannover bei einem Symposion der Bundesapothekerkammer in Berlin. Ihren Ausführungen zufolge sieht es mit der sogenannten "Health Literacy" der Deutschen nicht allzu gut aus. Gesundheitssysteme werden komplexer
"Health Literacy" (deutsch: Gesundheits-Alphabetisierung) ist ein von der Weltgesundheitsorganisation entwickelter, inzwischen feststehender Begriff, der die Fähigkeit beschreibt, "sinnvolle Entscheidungen in Bezug auf die eigene Gesundheit zu treffen, und zwar im Kontext des täglichen Lebens, zu Hause, am Arbeitsplatz, im Gesundheitssystem und auf der politischen Ebene".
Bereits 2012 hatte die WHO festgestellt, dass es für die Bürger, und zwar auch für gut gebildete, immer schwieriger wird, sich in komplexer werdenden Gesundheitssystemen zurechtzufinden – wobei es gleichzeitig das Bildungswesen nicht mehr schafft, allen Menschen die grundlegenden Fähigkeiten des Lesens und Schreibens zu vermitteln.
Dürftige Gesundheitskompetenz in Deutschland
So gelten knapp 15 Prozent der Erwachsenen in Deutschland als funktionale Analphabeten, 26 Prozent können nur langsam lesen und schreiben. Sie dürften also mit dem Textverständnis, etwa auch mit Beipackzetteln erhebliche Schwierigkeiten haben.
Neuere Untersuchungen, die aus dem Jahr 2016 stammen, zeigen denn auch eine dürftige Gesundheitskompetenz der Deutschen.
Als "exzellent" stufen danach nur 7,3 Prozent der Deutschen ihre "Health Literacy" ein, weitere 38,4 Prozent bewerten sie als ausreichend. 55,5 Prozent, also deutlich mehr als die Hälfte, geben selbst zu, nur ein problematisches oder gar inadäquates Gesundheitswissen zu haben.
Selbst Bürger mit hoher Bildung sehen ihre "Health Literacy" eher kritisch – weniger als die Hälfte halten sie für ausreichend oder gar exzellent.
Erfahrung mit Krankheit führt dabei nicht unbedingt zu einem besseren Verständnis: So nimmt die Gesundheitsbildung mit zunehmendem Alter ab, von 52,5 Prozent der 15- bis 29-Jährigen, die ihr Gesundheitswissen als ausreichend oder exzellent einstufen, auf knapp 41 Prozent bei den über 65-Jährigen.
Das wiederum korreliert mit den Antworten auf die Frage nach chronischen Erkrankungen: Menschen mit dauerhafter Krankheit fühlen sich wesentlich schlechter informiert als solche, die größtenteils gesund sind: fast 73 zu gut 58 Prozent.
Kriminalistischer Spürsinn der Apotheker
Die Spitzenorganisationen des deutschen Gesundheitswesens, angefangen beim Bundesgesundheitsministerium bis hin zu Bundesärztekammer, KBV, Apothekerschaft und Krankenkassen, haben dies längst erkannt und eine Allianz für Gesundheitskompetenz ins Leben gerufen, um die Gesundheitsbildung zu verbessern, Entscheidungshilfen zu entwickeln, auch mit einem Nationalen Gesundheitsportal im Internet, und Masterpläne für Medizin und Pflege zu entwickeln, in denen auch mehr Verständlichkeit im Arzt-Patienten-Gespräch ein wichtiges Ziel ist.
Andererseits: Um möglichen Fehlgebrauch oder gar Missbrauch von Arzneimitteln zu verhindern, bedarf es nach wie vor auch eines fast kriminalistischen Spürsinns von Apothekern in der Offizin. Rezeptfälschungen oder Privatrezepte wohnortferner Ärzte für Großpackungen sind Anhaltspunkte für möglichen Missbrauch, so Martin Schulz.
Dann sei der Apotheker als Heilberufler gefragt, der die Einlösung des Rezepts verweigern müsse.