Leopoldina und Akademienunion fordern
Radikaler Kurswechsel in der Reproduktionsmedizin
Wissenschaftler fordern den Gesetzgeber auf, die Regulierung der Fortpflanzungsmedizin zu überdenken. Ihre Vorschläge sind gemessen an der bisherigen Rechtspraxis radikal.
Veröffentlicht:BERLIN. Wissenschaftler schlagen eine umfassende Revision des Embryonenschutzgesetzes und liberalere Regelungen zur Reproduktionsmedizin in Deutschland vor.
Die Stellungnahme der Leopoldina und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften würde einen weitreichenden Politikwechsel bedeuten.
Als Grundgedanke formulieren die Autoren, die Familienbildung sollte durch die Reproduktionsmedizin gefördert, die Ungleichbehandlung von verheirateten oder anderen Partnerschaften sowie hetero- und homosexuellen Paaren sollte vermieden werden.
Internationaler Standard zählt
Vor allem für das aus dem Jahr 1990 stammende Embryonenschutzgesetz sehen die Wissenschaftler umfassenden Revisionsbedarf.
Denn vor knapp 30 Jahren fehlte dem Bundestag noch die Gesetzgebungskompetenz für die Fortpflanzungsmedizin. Das Regelwerk fußt daher vor allem auf Verboten und Strafandrohungen.
Mittlerweile hätten sich nicht nur die Vorstellungen von Ehe und Familie verändert, schreiben die 15 Autoren um den Mannheimer Medizinrechtler Professor Jochen Taupitz.
Gefordert wird auch, Fortpflanzungsmediziner nicht länger durch Rechtsvorschriften daran zu hindern, „Behandlungen nach dem internationalen Stand der Wissenschaft durchzuführen“. Die Vorschläge würden einen Bruch mit der bisherigen Regulierungspolitik bedeuten:
- Samen- und Eizellspende: Das seit Juli 2018 geltende Samenspenderregister sollte erweitert werden, um auch Daten der „Altfälle“ in das Register zu überführen. Die bislang verbotene Eizellspende sollte erlaubt werden. Die so gezeugten Kinder wiesen „keine medizinischen oder psychosozialen Auffälligkeiten auf“.
- In-vitro-Fertilisation: Die in Deutschland unter Strafe stehende Auswahl von Embryonen mit der größten Entwicklungsfähigkeit (elective Single-Embryo-Transfer sollte erlaubt werden. Die aktuellen Vorgaben beförderten Mehrlingsschwangerschaften und Frühgeburten.
- Präimplantationsdiagnostik: Die bisherige Genehmigung der PID durch Ethikkommissionen sollte abgeschafft werden. Deren uneinheitliche Entscheidungspraxis werde der „Interessenslage der Betroffenen nicht gerecht“. Die Kosten der PID sollten von der Versichertengemeinschaft getragen werden.
- Kryokonservierung: Die Dauer der Lagerung von Keimzellen, Ovarialgewebe, Vorkernstadien oder Embryonen sollte beschränkt werden. Damit würden sukzessive tausende bislang tiefgefrorene Embryonen „verfügbar“. Ihr kommerzieller Handel soll verboten sein, für die Spende darf eine Aufwandsentschädigung geleistet werden. Vorkernstadien und Embryonen sollten im Falle einer Spende rechtlich gleichbehandelt werden.
- Finanzierung reproduktionsmedizinischer Leistungen: Die Kostenübernahme sollte unabhängig vom Familienstand erfolgen, ebenso die psychosoziale Beratung. Maßnahmen sollten „in vollem Umfang“ von der GKV finanziert werden, „wenn sie medizinisch indiziert sind und eine realistische Aussicht auf Erfolg haben“.
Keine expliziten Vorschläge machen die Autoren zur umstrittenen Leihmutterschaft. Regelungsbedarf gebe es aber dennoch, und zwar für die im Ausland legal von einer Leihmutter geborenen Kinder.
Hier müsse eine rechtlich sichere Zuordnung des Kindes zu den Wunscheltern erfolgen. Richterrecht reiche nicht aus.
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