Modellprojekt in Hanau

Psychiatrie-Versorgung vom Patienten aus gedacht

Psychiatrie-Patienten nach ihren Bedürfnisse versorgen, ohne den Blick aufs Budget richten zu müssen: In Hanau ist ein bundesweit einzigartiges Modellvorhaben nach Paragraf 64b gestartet worden.

Von Rebecca Beerheide Veröffentlicht:
Keiner wird allein gelassen: Die Versorgung in der Psychiatrie wird in Hanau noch stärker auf die Bedürfnisse der Patienten ausgerichtet.

Keiner wird allein gelassen: Die Versorgung in der Psychiatrie wird in Hanau noch stärker auf die Bedürfnisse der Patienten ausgerichtet.

© mopic / fotolia.com

HANAU. Mauern einreißen, eine Station schließen und Versorgung in der Psychiatrie neu denken: In den vergangenen zwei Jahren ist in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Hanau kaum ein Stein auf dem anderen geblieben.

Im Rahmen eines IV-Vertrages "Optimierte Versorgung in der Psychiatrie" (OVP) wurden die Budgetgrenzen zwischen stationärer und ambulanter Versorgung abgebaut und die Versorgung in der Psychiatrie um ein "Home Treatment" erweitert.

Ob ein Patient ambulant oder stationär versorgt wird, soll keinen Unterschied mehr in der Abrechnung machen. Seit September 2013 ist das Projekt in ein Modellvorhaben nach Paragraf 64b SGB V überführt worden - bisher einzigartig in Deutschland.

Aha-Effekte bei den Mitarbeitern

Patienten in Hanau können seit 2011 eine intensive ambulante aber auch teilstationäre Versorgung in Anspruch nehmen. Ihnen soll es ermöglicht werden, so lange wie möglich in ihrem gewohnten Umfeld zu bleiben.

Diesen Wunsch, Patienten in der Psychiatrie immer genau so zu versorgen, wie er es in der Situation braucht, hatten sie im Klinikum Hanau schon lange.

Die Umsetzung dieses Wunsches im Rahmen des IV-Vertrages, der aus der TK-Zentrale in Hamburg stammt und von AOK und TK in Hessen umgesetzt wurde, hat große Folgen für die Arbeits- und Organisationsstruktur der Klinik für Psychiatrie gehabt. Mitarbeiter aus dem stationären Bereich tauschten mit Kollegen, die in der Ambulanz Patienten versorgen.

Dieses interne Mentoring-Programm sowie der intensive Austausch über Patienten und ihre Krankengeschichte brachte oft Aha-Effekte bei den Mitarbeitern: Wer bisher einen Menschen nur in Krisensituationen auf der Station erlebt hat, machte als Fallmanager beim Hausbesuch ganz andere Erfahrungen und konnte als Bezugsperson ein persönliches Vertrauensverhältnis aufbauen.

Wer den Patienten in seiner Wohnung besucht oder gemeinsam den Kühlschrank befüllt, kann besser beurteilen, warum es bei ihm zu Krisensituationen kommt.

Eine Station weniger, aber ein Team mehr

Diese Hausbesuche sind kostspielig und konnten in den Zeiten der stationären Quartalspauschalen gar nicht und zu Beginn des IV-Vertrages kaum abgebildet werden.

Mit der verstärkten ambulanten Versorgung stieß das Klinikum schnell an die Grenzen der Stationskapazitäten.

Nachdem der IV-Vertrag rund neun Monate lief, folgte ein Schritt, der in der Kliniklandschaft selten ist: Dr. Thomas Schillen, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, warb bei der Klinikumsleitung für die Schließung einer Station, um so mehr Ressourcen für die ambulante Versorgung zu schaffen.

Seit Anfang Juni 2012 gibt es eine Station weniger, aber ein Team mehr: 13 Vollzeitkräfte in der Pflege sowie 2,5 Vollzeitstellen für Ärzte und Psychologen, eine halbe Stelle für einen Oberarzt, Sozialarbeiter, Ergotherapeuten und eine Stationsassistentin bilden das Team für die ambulante Versorgung.

Nach rund zwei Jahren ist klar: Die Patienten mit schweren und langfristig verlaufenden psychischen Störungen profitieren von der individuellen Versorgung und individuellen Betreuung.

"Eine gewachsene Behandlungsbeziehung trägt damit zur psychischen Stabilisierung der Betroffenen bei", so Schillen.

Vertragssicherheit für acht Jahre

Eine Bilanz des IV-Vertrages, der noch ein weiteres Jahr hätte laufen können, stimmte alle Beteiligten positiv - und nun steht das Modellprojekt nach Paragraf 64b SGB V.

Für acht Jahre können nun 30 Betreuungsplätze zur ambulanten Akutbehandlung zur Verfügung gestellt werden. 2011 konnten so 10.500 stationäre Tage vermieden werden und die Ressourcen zur ambulanten Versorgung eingesetzt werden, teilt das Klinikum mit.

Aus den ersten Zahlen geht ebenso hervor, dass die mittlere Verweildauer bei stationären Aufenthalten von 21 auf 13,5 Tage gesunken ist.

"Wir sind sehr zufrieden mit dem Verlauf von OVP. Auch die Rückmeldungen, die wir von den Patientinnen und Patienten bekommen, sind positiv", erklärt Schillen.

Auch aus kaufmännischer Sicht nimmt das Projekt für das Klinikum eine positive Entwicklung. In der Umbauphase von der stationären Bettenbelegung hin zur ambulanten Versorgung in den letzten zwei Jahren haben die TK sowie die AOK dem Klinikum ihr bisheriges Budget von 5,5 Millionen Euro pro Jahr garantiert.

Dafür wurden die Tagespauschalen, nach denen das Klinikum nun abrechnet, errechnet und bereits angepasst.

"Die Herausforderung besteht nun darin, die deutlich bessere Versorgung der Patienten ohne finanzielles Risiko für das Klinikum umzusetzen", sagt Monika Thiex-Kreye, Geschäftsführerin des Klinikums Hanau.

Erheblicher Anstieg bei ambulanten Leistungen

Bisher hat das Klinikum in zwölf verschiedenen ambulanten Pauschalen abgerechnet. Im Laufe des Vertrages sind diese inzwischen um 60 Prozent gestiegen.

"Und hier sind wir weiter in einer Modellphase, es kann auch noch einmal korrigiert werden", so die Landesleiterin der TK, Barbara Voß, im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung". Daher will die Kasse noch keine genauen Zahlen nennen.

Die TK gehört mit zu den Initiatoren des Projektes in Hessen und zieht nun nach zwei Jahren ein "erstes positives Fazit", wie es Voß ausdrückt.

Voß zeigte sich beeindruckt, wie schnell und gut das Projekt in Hanau funktioniert hat: "Wir können alleine an den Zahlen der TK-Versicherten sehen, dass es einen erheblichen Anstieg bei den ambulanten Leistungen gab. Gleichzeitig sanken die Werte für stationäre Leistungen."

Die guten Erfahrungen von AOK und TK im Land haben inzwischen auch andere Kassen überzeugt. Mit der Umstellung auf das Modellprojekt können auch ihre Versicherten von dem Angebot profitieren.

Allerdings warnt TK-Chefin Voß davor, das Projekt ohne Weiteres auf andere Kliniken zu übertragen. Denn die Leistung des Klinikums und des Chefarztes dürften nicht unterschätzt werden, so Voß.

"Für uns war es das begleitungsintensivste Projekt, das die TK Hessen je gemacht hat", erklärt Voß.

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