Bariatrische Chirurgie

Chirurgen werfen Kassen unmenschliche Behandlung von Adipositas-Patienten vor

Chirurgen kritisieren Kassen für eine "willkürliche und inhumane Behandlung von Patienten mit morbider Adipositas". Gegen die Krankheit sei Bariatrische Chirurgie die einzige evidenzbasierte Maßnahme und werde trotzdem häufig nicht erstattet.

Von Dr. Elke Oberhofer Veröffentlicht:
Häufig Streit um Kostenerstattung: Minimalinvasiver Eingriff für einen Magen-Bypass.

Häufig Streit um Kostenerstattung: Minimalinvasiver Eingriff für einen Magen-Bypass.

© Herjua / fotolia.com

Die zum Teil extreme Zurückhaltung der gesetzlichen Krankenkassen bei der Kostenübernahme für die Adipositas-Chirurgie hat nach Ansicht von Professor Thomas Hüttl von der Chirurgischen Klinik München-Bogenhausen Methode: Die Kostenträger sähen angesichts der gegenwärtig rund 1,6 Millionen Adipösen in Deutschland eine gigantische Welle bariatrischer Operationen auf sich zurollen. Um dies zu verhindern, lasse man den MDK offenbar reihenweise indizierte Eingriffe abschmettern, oftmals mit erstaunlichen Strategien.

Beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in München berichtete Hüttl von einer hochadipösen 51-jährigen AOK-Patientin aus Bayern (BM 53 ), die zusätzlich an einem schwer einstellbaren Typ-2-Diabetes (bis zu 100 I.E. Insulin täglich!) sowie weiteren schwerer Begleiterkrankungen litt: Wegen einer Nabelhernie war sie bereits zweimal operiert; Knie und Hüfte waren arthrotisch, die Wirbelsäule deformiert. 2009 dann der Myokardinfarkt, woraufhin die Patientin einen Stent erhielt. 2012 entging die Frau infolge einer Pneumonie mit Sepsis erneut nur knapp dem Tod.

Eine konservative Ernährungstherapie war bereits 2009/2010 ohne Erfolg geblieben. Dennoch wurde der Antrag auf eine bariatrische Op abgelehnt. Der Fall landete vor dem Sozialgericht. In den folgenden Jahren forderten von der Kasse oder vom MDK bestellte Gutachter immer wieder konservative Maßnahmen ein, vom Ernährungstagebuch bis hin zur Aqua-Gymnastik. Für Hüttl fast schon Zynismus: "Die Patientin ist Nichtschwimmerin, sie hat panische Angst vor Wasser!"

Im Sommer 2015 dann schließlich die Verhandlung. Als sich abzeichnet, dass die Patientin ihre Op bewilligt bekommen soll, erneut Gegenwind: Da die Patientin zwei Wochen zuvor erneut einen Stent bekommen habe, sei sie jetzt doch "viel zu krank" für den Eingriff, so der vom Anwalt per Telefon hinzugezogene Mitarbeiter des MDK. Die Verhandlung solle um wenigstens sechs Monate vertagt werden. Hüttl: "Da hat die Richterin nicht mitgespielt." Der Kostenträger wurde zur Sachleistung nach einem Stufenkonzept verurteilt. 2015 erhielt die Patientin zunächst einen Magenballon, 2016 dann einen Schlauchmagen. Ihr HbA1c fiel daraufhin von 11 auf 6 Prozent ab, sie benötigt jetzt noch 7 IE Insulin.

"Keine einzige Bewilligung binnen vier Monaten"

Solche Fälle sind laut Hüttl keine Ausnahme: "In einer Phase von vier Monaten hatten wir 2015 in Bayern null Genehmigungen, egal wie schwer der Patient war oder wie krank!"Deutschlandweit bekämen nur 0,75 Prozent der Patienten, für die eine bariatrische Chirurgie indiziert sei, diese auch bewilligt.

Auch für Professor Beat Müller vom Universitätsklinikum Heidelberg, ist diese Haltung aus medizinischer Sicht nur schwer verständlich. Der Experte stellte die im "Weißbuch Adipositas" veröffentlichten Zahlen vor: Demnach sei die bariatrische Chirurgie das "bei weitem effektivste Verfahren in der Adipositastherapie". Sie habe nicht nur einen positiven Effekt auf die Morbidität, sondern auch auf die Lebensqualität und das Überleben. Die durchschnittliche Gewichtsreduktion lag bei 16,3 BMI-Einheiten; im Gegensatz dazu ließ sich mit den in der S3-Leitlinie primär geforderten multimodalen Programmen lediglich eine Reduktion um 2,1 BMI-Einheiten erzielen. Letztere aber, so Müller, würden nicht von den Kassen bezahlt, sondern in aller Regel vom Patienten selbst. Auch gebe es für die Wirksamkeit keine Evidenz. Er berichtete über eine sechsjährige Studie mit 14 multimodal behandelten Adipösen. Alle außer einem hätten nach der Intervention wieder zugenommen.

"Folgekosten sind zu berücksichtigen"

Die Referenten werfen einigen Kassen zudem vor, die Adipositas-Chirurgie ungerechterweise abschreckend darzustellen. So komme eine von der Barmer GEK in Auftrag gegebene Studie auf Nettokosten von 9000 Euro pro operiertem Adipositas-Patienten. Dies wurde so interpretiert, als würde die Adipositaschirurgie um 9000 Euro mehr kosten als eine konservative Therapie. "Das gilt natürlich nur dann", so Müller, "wenn man für Letztere nichts bezahlt."

Die DAK berücksichtige in ihrem "Versorgungsreport Adipositas" dagegen auch Folgekosten. Ein Adipositas-Patient, so Müller, der Folgekrankheiten wie Arthrose, Diabetes, Herzleiden, Schlaganfall oder Krebs entwickle, koste schließlich auch Geld. Im Schnitt würden die resultierenden "Disability Adjusted Life Years" (DALY) jährlich mit etwa 2200 Euro pro Patient zu Buche schlagen. "Bei onkologischen Patienten zögern wir keine Sekunde, ihnen ein teures Chemotherapeutikum zu geben", so der Experte. "Und hier führen wir solche Diskussionen."

Vom Vorwurf einer Op-Welle bei Adipositas ist Deutschland zudem weit entfernt. "Die Operationshäufigkeit bei Vorliegen einer morbiden Adipositas liegt in Deutschland derzeit bei 10,5 pro 100.000 Erwachsene. In anderen europäischen Staaten ist sie um ein Vielfaches höher (Schweden: 114,8; Frankreich: 86,0; Schweiz: 51,9)", berichtet Professor Christine Stroh vom Wald-Klinikum Gera im "Deutschen Ärzteblatt" (2016; 113(20): A-980). Obwohl Deutschland also im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz in der Inzidenz von Adipositas und Typ-2-Diabetes einnimmt, ist die Zahl bariatrischer Eingriffe bezogen auf die Bevölkerung immer noch wesentlich niedriger als in den Nachbarländern.

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