Influenza
Dämpfer für Tamiflu und Relenza
Jahrelang haben Forscher um neue Daten zur Wirkung von Neuraminidasehemmern gegen Influenza gebeten. Jetzt haben sie sie bekommen und neue Auswertungen publiziert. Der Nutzen wird darin massiv infrage gestellt.
Veröffentlicht:NEU-ISENBURG. Mehr als vier Jahre, von 2009 bis 2013, hat es gedauert, bis Experten der Cochrane Collaboration alle bis dato vorliegenden Rohdaten zu den Neuraminidasehemmern Oseltamivir und Zanamivir eingetrieben hatten – gegen den Widerstand der Hersteller.
Jetzt endlich liegen sämtliche, auch die von Roche und GlaxoSmithKline zunächst zurückgehaltenen Studienberichte vor, und sie sprechen nach einer neuen Analyse eine klare Sprache: Beide Präparate zeigen gegen Grippesymptome eine mehr als bescheidene Wirkung. Und mit keinem der beiden Arzneien lassen sich demnach die teils drastischen Komplikationen einer Influenzainfektion verhindern.
Vor allem Oseltamivir ruft zudem bei vielen Patienten relevante Nebenwirkungen hervor. Das Grippemittel wird von der Weltgesundheitsorganisation WHO zur Behandlung der Influenza empfohlen und für den Fall einer Grippepandemie auch in Deutschland in millionenfachen Dosen auf Vorrat gehalten.
Die Teams um Professor Carl Heneghan aus Oxford und Dr. Tom Jefferson aus Rom haben 20 Studien zu Oseltamivir analysiert. Insgesamt verkürzte sich die Zeit bis zur spürbaren Besserung der Symptome nur um durchschnittlich 16,7 Stunden, von sieben auf 6,3 Tage. Bei Kindern lag der Unterschied bei immerhin 29 Stunden. Das traf jedoch nicht auf solche kleine Patienten zu, die Asthma hatten. (BMJ 2014; 348: g2545).
Bei Zanamivir – hierzu wurden 26 Studien herangezogen – war der Effekt ähnlich gering. Bei Erwachsenen vergingen im Schnitt 14,4 Stunden, bis die Symptome abklangen. Die Symptomdauer verkürzte sich von 6,6 auf sechs Tage. Bei Kindern nützte das Medikament in dieser Hinsicht schlichtweg nichts (BMJ 2014; 348: g2547).
Positive Effekte bei der Prophylaxe
Bei der Prophylaxe konnte Oseltamivir allerdings die Zahl der symptomatischen Influenzaerkrankungen um 55 Prozent reduzieren. Dem entgegen stehen jedoch potenzielle Nebenwirkungen, vor allem psychiatrische Ereignisse, wie die Forscher schreiben. Auch Kopfschmerzen, renale Ereignisse und Übelkeit werden berichtet.
Positiv schnitt auch Zanamivir bei der Prophylaxe ab: Hier konnte der Wirkstoff die Zahl der Influenzaerkrankungen bei Erwachsenen signifikant reduzieren, die Ereignisrate fiel von 3,26 auf 1,27 Prozent. 51 Patienten müssten mit Zanamivir vorbeugend behandelt werden, um eine Influenzaerkrankung zu vermeiden.
Komplikationen der Grippeerkrankung konnten die Neuraminidasehemmer jedoch nicht besser verhindern als Placebo: Zwar sank die Rate der "Pneumonien", aber nur dann, wenn man die Patienten selbst in unspezifischer Form danach gefragt hatte.
Nahm man als Maßstab jedoch die röntgenologisch bestätigte Pneumonie, verlor sich der Unterschied. Bei Kindern war auch bei den nicht verifizierten Diagnosen kein Unterschied zu sehen.
Weder bei Erwachsenen noch bei Kindern konnte das Risiko einer Klinikeinweisung gesenkt werden. Und auch vor Mittelohrentzündung oder Sinusitis waren die Patienten nicht gefeit. Außerdem gab es für keines der beiden Medikamente Belege, dass sie vor einer Ansteckung schützen.
Die Forscher kritisieren nicht nur den geringen Nutzen, sondern auch das deutlich erhöhte Risiko von Nebenwirkungen. So litten Grippepatienten bei Einnahme von Oseltamivir – anders als unter Zanamivir – vermehrt unter Übelkeit und Erbrechen.
Hersteller halten an ihren Präparaten fest
Bei prophylaktischer Anwendung stieg das Risiko für Kopfschmerzen und von – wenn auch seltenen – psychischen Nebenwirkungen wie Nervosität, Aggression, Paranoia oder Selbstmordgedanken.
Zwei weitere Kritikpunkte werden im BMJ angeführt: So gibt es Hinweise, dass Oseltamivir die Produktion von Antikörpern gegen das Influenzavirus unterdrückt. Damit würde widersinnigerweise die körpereigene Abwehr gegen die Infektion geschwächt.
Und schließlich ist die propagierte Schutzwirkung gegen Diarrhöen wahrscheinlich nur ein Scheineffekt: Das Placebopräparat, gegen das Oseltamivir in den entsprechenden Studien getestet wurde, enthielt eine Substanz, die Durchfall auslösen kann.
Die Hersteller wollen die Vorwürfe der Cochrane-Experten nicht auf sich sitzen lassen. In einer aktuellen Stellungnahme von Roche heißt es: "Die Entscheidungen von weltweit 100 Zulassungsbehörden sowie die in der Anwendungspraxis gewonnenen Daten (...) belegen, dass Tamiflu® ein wirksames Arzneimittel zur Behandlung und Prävention der Influenza-Infektion ist."
Der Kommentar der Firma GlaxoSmithKline: "Wir sind weiterhin davon überzeugt, dass Relenza® ein wesentlicher Bestandteil von Maßnahmen ist, das Ausmaß einer Influenza zu mindern. Korrekt und bei den richtigen Patienten eingesetzt, kann Relenza® die Dauer der Grippesymptome verkürzen."
Kritik von den Journal-Editoren
Für die BMJ-Redakteurinnen Elizabeth Loder und Fiona Godlee aus London ist die Argumentation der Firmen nach Publikation der neuen Daten hinfällig: "Die gesammelte Evidenz aus allen publizierten oder nicht publizierten Studien zeichnet ein wesentlich weniger positives Bild als das, welches man Regulierungsbehörden, politischen Entscheidungsträgern, Ärzten und der Öffentlichkeit bislang präsentiert hat."
Man habe, so Loder, "den Nutzen der Medikamente überbewertet und die potenziellen Schäden heruntergespielt".
Vergangenes Jahr hatte hierzulande die Bundestagsfraktion der Linkspartei eine parlamentarische Anfrage zum Sinn der massenhaften Einlagerung von Oseltamivir gestellt.
Die Antwort der Bundesregierung lautete damals: "Da die Daten der Cochrane-Untersuchung (aus dem Jahr 2012, Anm. d. Red.) die derzeitige positive Nutzen/Risiko-Bewertung für Tamiflu® nicht beeinflussen, sind die Kriterien, die zur Auswahl des Arzneimittels Tamiflu® für einen Einsatz im Rahmen einer Pandemie geführt haben, nach wie vor als unverändert anzusehen." Diese Haltung muss jetzt wohl überdacht werden.
(Mitarbeit: nös)