Multiple Sklerose
Darmbakterien als Initialzünder?
Bakterielle und virale Infektionen gelten als mögliche Trigger einer Multiplen Sklerose. Neueren Daten zufolge könnte auch eine intakte Darmflora die Aktivierung der autoreaktiven Immunzellen anstoßen.
Veröffentlicht:MÜNCHEN. Schon länger gibt es Beobachtungen, die sich als Zeichen einer Verbindung zwischen MS und Darmflora deuten lassen. Beispielsweise besteht eine gewisse Koinzidenz der neurologischen Erkrankung mit Verdauungsstörungen, aber auch mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen.
In asiatischen Ländern, etwa Japan, kommt es parallel zur "Verwestlichung" der Ernährung zu einem starken Anstieg der MS-Erkrankungen. Außerdem sind diverse Diäten beschrieben, die den Verlauf einer MS günstig beeinflussen sollen.
"Für Schulmediziner sind diese Befunde jedoch nicht sehr überzeugend", hat Professor Hartmut Wekerle, Direktor des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried, kommentiert.
Mehr noch: Einen Vortrag zum Thema "MS und Darmflora", wie er ihn jetzt bei der Neurowoche 2014 in München gehalten hat, hätte er vor fünf Jahren "als Absurdität" zurückgewiesen.
Dass Wekerles Urteil nun anders ausfällt, liegt daran, dass das intestinale Mikrobiom seit einiger Zeit auch von Neurologen beforscht wird - mit erstaunlichen Ergebnissen: "Inzwischen gibt es Daten, die eine gesunde Darmflora als Initialzünder für die MS wahrscheinlich machen", so Wekerle.
Darmflora - ein komplexes Ökosystem
Die bisher wichtigsten Daten dazu stammen aus Tierexperimenten, die in Martinsried durchgeführt wurden. Transgene RR-Mäuse (RR steht für relapsing remitting), die auf den meisten ihrer T-Zellen einen Rezeptor für das Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein exprimieren, entwickeln zu über 80 Prozent spontan eine experimentelle autoimmune Enzephalomyelitis (EAE), eine demyelinisierende Autoimmunerkrankung, die der menschlichen MS ähnlich ist.
Die RR-Mäuse bleiben jedoch gesund, wenn man sie unter keimfreien Bedingungen hält. Das liegt offenbar nicht daran, dass ihr Immunsystem wegen der fehlenden Stimulation generell darniederliegt. Wird nämlich auf keimfrei lebende Mäuse Darminhalt von einer "normal" aufgewachsenen Maus übertragen, dann entwickeln auch sie in kürzester Zeit eine EAE.
"Die Darmflora scheint also ein physiologischer Trigger zu sein", so Wekerle. Die Darmflora ist ein höchst komplexes Ökosystem. Der menschliche Darm etwa wird von mehr als 1000 Bakterienspezies besiedelt, jeder Mensch beherbergt mindestens 160 Arten. Welche, das hängt außer von den Genen vor allem von Umweltfaktoren wie Ernährung, Hygiene und Medikamenteneinnahme ab.
Außerdem setzen sich die Mikroökosysteme je nach Darmsegment unterschiedlich zusammen und erfüllen auch unterschiedliche immunologische Funktionen, wie Wekerle erläuterte.
Auf das Darm-assoziierte Lymphgewebe können sie zum Beispiel durch bakterielle Strukturen wie Lipopolysaccharid, aber auch durch bakterielle Abbauprodukte wie kurzkettige Fettsäuren Einfluss nehmen.
Faserreiche Diät senkte Erkrankungsrate
Falls die Darmflora auf diese Weise tatsächlich eine MS triggern kann, wären gezielte Veränderungen der Darmflora möglicherweise geeignet, die Krankheit zu verhindern oder zu verzögern.
Einen Hinweis darauf liefern Untersuchungen bei OS-Mäusen, die ebenfalls spontan an einer EAE erkranken. Bei ihnen konnte durch eine faserreiche Diät die Erkrankungsrate deutlich gesenkt werden.
Bei salzreicher Kost blieben sie sogar zu 100 Prozent gesund. Der letzte Befund steht allerdings in Widerspruch zu anderen tierexperimentellen Daten, wonach viel Kochsalz eine EAE verstärken kann.
Spielt die Darmflora auch bei der menschlichen MS eine Rolle? Um diese Frage zu klären, läuft derzeit eine Studie mit überwiegend monozygoten Zwillingen, die bezüglich MS dis- oder konkordant sind. Untersucht wird, ob sich MS-spezifische Darmflora-Profile erkennen lassen.
Dass die intestinale Mikrobiota der MS-Kranken in der Tat Besonderheiten aufweisen könnte, zeigt ein bereits abgeschlossenes Experiment: Keimfrei gehaltene RR-Mäuse, auf die Stuhlproben von einem erkrankten Zwilling übertragen wurden, entwickelten laut Mekerle häufiger eine EAE als Mäuse mit einer Stuhlspende von einem gesunden Zwilling.